Nun schlägt wieder die Stunde der Empörten, Enttäuschten, Beschämten und Betroffenen. Und des Aktivismus. Volks- und Standesinitiativen werden erwogen, 10-Punkte-Pläne geschmiedet. Dabei geht eines vergessen. Das banale Warum.
Zum dritten Mal wurde eine Initiative der SVP gegen alle anderen Parteien, den Bundesrat, die wirtschaftliche und kulturelle Elite angenommen. Diesmal sogar ganz explizit gegen handfeste wirtschaftliche Interessen. Bei Minarett- und Ausschaffungsinitiative hatten sich Bürgerliche und Wirtschaft noch vornehm zurückgehalten. Schliesslich ging es nur um das Plagen von vernachlässigbaren Randgruppen. Doch diesmal ging‘s daneben – obwohl es doch um die Wurst ging. Obwohl das Argument, dass die Wirtschaft, dass Arbeitsplätze tangiert sind, sonst immer gezogen hat. Kriegsmaterial-Ausfuhr, das ist eigentlich daneben und gruusig, aber hey, es geht um Arbeitsplätze und das ist das Wichtigste. Und jetzt haben es die Leute nicht geglaubt oder es war ihnen – eben – Wurst.
Das ist unter dem Strich, auch wenn es knapp ausgefallen ist, ein massives Misstrauensvotum gegen den Bundesrat und die Wirtschaft. Linke, Grüne, Gewerkschaften und migrationspolitische Organisationen haben selbstverständlich auch auf die Kappe gekriegt, aber deren Vorstellungen waren eh noch nie mehrheitsfähig. Und darum braucht es zuerst mal eine Analyse, was eigentlich schief gelaufen ist.
Ich habe durchaus ein paar Vermutungen:
- Zuwanderung wurde in den letzten Jahren immer in einem Atemzug mit Problemen gesetzt: Wohnungsnot, Zersiedelung und volle Züge. Natürlich mit dem Nachtrag, dass man die Probleme anders lösen sollte. Über das wie herrschte aber grosse Uneinigkeit. Kein Wunder kommt der Stimmbürger oder die Stimmbürgerin auf die Idee, man könnte vielleicht die Probleme lösen, in dem man deren vermeintliche Ursache – die Ausländer – entfernt.
- Ins gleiche Kapitel gehört das Powerplay um die Kroatien-Erweiterung, das ich eigentlich strategisch und inhaltlich immer richtig gefunden habe. Aber es haben sich hier wohl sowohl Wirtschaft wie auch Linke verpokert. Gewonnen hat die SVP – trotz schlechtem Blatt.
- Das Ernstnehmen der Ängste führt zu einer Bestätigung der Ängste. Wir erleben in den letzten Jahren unter dem vermeintlichen Kampf gegen politische Korrektheit und Tabus eine eigentliche Entzivilisierung. Norbert Elias beschreibt Zivilisierung als „prozesshafte Ausbildung individueller Selbstregulierung trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse“. Für die Nichtsoziologen hat es Mani Matter einfacher ausgedrückt: „was unterscheidet d’mönsche vom schimpans /s’isch nid die glatti hut, dr fählend schwanz/ nid dass mir schlächter d’böim ufchöme, nei /dass mir hemmige hei“. Die SVP hat mit ihrem seit über zwanzig Jahren dauernden Sperrfeuer dafür gesorgt, dass Linke und Nette abgestumpft sind oder selber mitmachen beim Kampf gegen Tabus und für Humor ohne Grenzen. Wir versuchen nicht mehr bessere Menschen zu sein, wir wollen auch mitlachen, wenn es gegen die Gutmenschen geht.
- Es muss uns zu denken geben, dass die Zustimmung zur offenen Schweiz in den Agglomerationen gesunken ist. Meine Vermutung ist, dass in den Agglomerationen alle Nachteile des Bevölkerungswachstums und des Stadtlebens spürbar sind (von vollen Pendelzügen über schlechte Raumplanung) und keine der Vorteile (Kulturprogramm, ÖV, Kinderbetreuung, Qualität des öffentlichen Raums). Das führt zu einer Entfremdung und einer Unzufriedenheit. Wir müssen uns überlegen, wie wir mehr Stadt in die Agglo bringen.
- Was ist das Positive an der offenen und – ich wage es zu sagen – multikulturellen Schweiz? Davon war im ganzen Abstimmungskampf wenig zu spüren. Es gibt weder eine wirtschaftlich noch eine kulturelle Alternative zur SVP-Schweiz oder zur FDP-Schweiz, die in diesem Abstimmungskampf zu sehen war. Vielleicht haben wir keine? Und wenn ja, dann müssen wir daran schleunigst arbeiten.
Stimmt meine Analyse? Ich weiss es nicht. Was passiert jetzt überhaupt? Was macht der Bundesrat? Was geschieht mit Ecopop? Ich weiss es nicht. Aber ich bin überzeugt, es lohnt sich jetzt nachzudenken, bevor man handelt. Darum gilt mit Brecht: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen. Den Vorhang zu und alle Fragen offen.