Erschienen im P.S.
«Wenn Wahlen etwas verändern würden, dann wären sie längst verboten.» Dieser alte Anarchistenspruch kam mir letzthin in den Sinn. Natürlich auch, weil gerade Wahlen sind und ich und viele andere Leute im Moment damit beschäftigt sind, im Freundeskreis, auf der Strasse und am Telefon Leute davon zu überzeugen, dass es wichtig ist, wählen zu gehen. Selbstredend teile ich die Meinung des Spruchs nicht. Für mich gilt die Regel: «Nichtspieler Maul halten.» Wer sich nicht beteiligt, wer nicht mitmacht, muss sich nicht wundern, wenn über seinen oder ihren Kopf hinweg entschieden wird.
Aber – so unter uns Klosterschwestern und -brüdern – verändern Wahlen überhaupt wirklich was? In der Schweiz, wo ein Zugewinn oder Verlust von 1,5 Prozent schon ein halber Erdrutsch ist? Im Kanton Zürich, der immer eine bürgerliche Mehrheit hat? Wieviel kann eine Linke oder ein Linker in einem bürgerlichen Regierungsrat mit einem bürgerlichen Kantonsrat überhaupt ausrichten? Ich bin überzeugt, es macht einen Unterschied, wer ein Departement mit welchen Werten führt und vertritt. Und man kann durchaus auch aus einer Minderheitenposition Einfluss nehmen. Ich hatte eine längere Diskussion mit einem Bekannten, der zwar Jacqueline Fehr und Markus Bischoff wählen will, aber Martin Graf und Mario Fehr nicht. Mario Fehr passt ihm nicht, weil er sich fürs Hooligan-Konkordat eingesetzt hat, und Martin Graf habe im Fall «Carlos» eine schlechte Falle gemacht. Einzelfälle oder -Entscheide rauszupicken, ist aber in der Politik selten eine gute Idee. Sowohl Mario Fehr wie auch Martin Graf sind nicht am linken Flügel ihrer Parteien. Aber sie sind dennoch Linke und Grüne – ganz im Gegensatz zu ihren KonkurrentInnen von Top 5. Es wird wohl kaum eine Wende geben am 12. April. Aber das heisst nicht, dass man es nicht versuchen soll.
Ein anderer Bekannter hat in einem Griechenlandurlaub den Kellner davon zu überzeugen versucht, dass Wahlen etwas bringen und dass sie einen Unterschied machen. Diese Wahlen haben seither stattgefunden. Griechenland hat auf eine neue Kraft gesetzt und darauf, dass Wahlen etwas verändern: Syriza startete als Hoffnungsträger. Die beiden starken Männer der griechischen Regierung Alexis Tsipras und Yanis Varoufakis bekamen hierzulande sogar Applaus von ganz unerwarteter Seite. Rechtsbürgerliche Journalisten fanden, die Schweizer sollten sich ein Beispiel nehmen an der Verhandlungstaktik der beiden Griechen. Insbesondere Varoufakis mit seinem Ledermantel und dem Rockstar-Auftritt fand Anklang. Jetzt – einen Monat später – ist der Applaus verstummt. Die Griechen haben ausser einer kurzen Verschnaufpause nichts erreicht. Varoufakis machte Schlagzeilen mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Stinkefinger und einer schlecht getimten Homestory in ‹Paris-Match›. Griechenland erscheint gerade gleichsam als Tragödie und als Farce.
Mein – wohl naiver – Glaube an die Gestaltungskraft der Politik liess mich bis anhin davon ausgehen, es werde sich hier schon eine Lösung finden. Ein Kompromiss, mit dem beide Seiten das Gesicht wahren können. Im Moment sieht es kaum danach aus. Obwohl die Forderungen der Griechen immer moderater werden, wird jeder Vorschlag kategorisch abgelehnt. Keine europäische Schuldenkonferenz, keine Koppelung des Schuldendiensts an das Wirtschaftswachstum, kein Überbrückungskredit und auch keine Gnade für einen Privatisierungsstopp. Im Moment versucht Tsipras, Angela Merkel mit einer neuen Reformliste zu überzeugen. Dabei sind einige Wahlversprechen bereits mindestens geritzt: Die Privatisierungen sollen weitergehen, das Rentenalter soll erhöht werden. Ob die Troika und Deutschland damit zufrieden sind, ist noch offen. Das Problem an der ganzen Geschichte: Scheitert Syriza, dann scheitert auch die Hoffnung, dass sich durch Wahlen irgendwas ändern könnte. Und dass ein Land auch in der EU noch einen eigenen Gestaltungsspielraum hat. Wer nachher kommt, ist offen.
Der Fall Griechenland wirkt wie eine Disziplinierungsübung. Der Austeritätskurs muss durchgezogen werden, koste es, was es wolle. Sonst kommen am Ende noch andere Länder auf die Idee, es ginge auch anders. Doch Schäuble und Merkel mögen stur sein, frei in ihrer Entscheidung sind auch sie nicht. CDU und SPD werden von Deutschen und nicht von Griechen gewählt. Und auch nicht für oder wegen ihrer Europapolitik. Die ‹Bild› trommelt seit Wochen gegen Griechenland. Die Meinung der Bürgerinnen und Bürger ist klar: Die Griechen sind selbst schuld und sollen zuerst mal aufräumen. Und sie haben keine Lust, für deren Altlasten finanziell aufzukommen.
Griechenland zeigt exemplarisch die Tücken der Globalisierung und der Politik in einem übernationalen Rahmen auf. Nationalstaatliche Lösungen reichen nicht mehr aus. Doch Politik ist an diese Grenzen gebunden. Die Griechen haben an der Wahlurne die Austeritätspolitik abgewählt. Aber ob diese Politik zu Ende geht, liegt völlig ausser ihren Händen. Mit «No, we can’t» gewinnt man aber keine Wahlen. Diese Aussichtslosigkeit ist eine Gefahr für die Demokratie. Die Europäische Union sollte eigentlich mehr sein als eine Wirtschaftszone. Sie ist ein Friedensprojekt. Sie ist die Idee, dass verschiedene Länder gemeinsam mehr erreichen als allein. Churchill sah 1946 in Zürich Grund zum Optimismus: «Lasst Gerechtigkeit, Gnade und Freiheit herrschen! Die Völker müssen es nur wollen, und alle werden ihren Herzenswunsch erfüllen.» Im Moment scheint man nicht zu wollen.
Demokratie funktioniert auch nicht, wenn man sie nicht respektiert. Das bedeutet auch die Umsetzung von unliebsamen Entscheiden oder von unliebsamen Personen, die gewählt wurden. Hier geht es nicht um buchstabengetreue Umsetzung – das interessiert die Leute, das haben schon genug Umfragen gezeigt, nicht. Es geht um den Respekt vor dem Entscheid. Zwei Beispiele: Eine Gruppe von US-Republikanern schrieb einen Brief an iranische Hardliner, um sie vor einem Atomwaffenabkommen, das Präsident Barack Obama mit dem Iran abschliessen will, zu warnen. 47 US-Senatoren haben diesen unterzeichnet. Sie hassen Barack Obama so sehr, dass sie vor Landesverrat nicht zurückschrecken. Es ist, wie wenn die SVP einen Brief an Claude Juncker verfassen würde, um ihn vor Verhandlungen mit der Schweiz zu warnen. Soweit sind wir – noch! – nicht.
Das andere Beispiel ist näher. Richi Wolff, AL-Stadtrat mit Biss, hat seine Zähne gezeigt. Er stoppte ein Videoüberwachungskonzept, das noch von seinem Vorgänger aufgegleist wurde und von der Polizeiführung und dem Polizeibeamtenverband ausdrücklich begrüsst wurde. Der Polizeikommandant Blumer verleiht seiner Missbilligung öffentlich Ausdruck. Die NZZ ist entsetzt. Dabei macht Wolff das, wofür er auch gewählt wurde. Er ist Mitglied der Alternativen Liste, er setzte sich für Grundrechte und für den Datenschutz ein. Im Wissen um seine Positionen wurde er im Amt wieder bestätigt. Die Diskussion ist in der AL vermutlich nicht einfach – intern wurde der Polizeieinsatz beim Derby stark kritisiert. Aber man kann auch als NZZ von Wolff nicht erwarten, dass er all seine Positionen aufgibt, nur weil er Polizeivorsteher ist. Das ist ein politisches Amt, und es ist sein Recht sowie seine Pflicht, politische Entscheidungen zu fällen. Sonst wären die Wahlen wirklich für die Katz.