Erschienen im P.S.
Wenn diese Zeitung gedruckt in den Briefkästen liegt, hat Grossbritannien entschieden. Ob es in der EU bleiben oder austreten will. Während ich diese Zeilen schreibe, habe ich keine Ahnung, wie die Abstimmung herauskommen wird. Ich will hier nicht über das Resultat spekulieren. Doch scheint mir bemerkenswert, dass die Briten nur mit bescheidenem Wissen über allfällige Folgen eine doch schicksalshafte Entscheidung treffen mussten. Eine Nation im Blindflug sozusagen.
Letzte Woche entschieden die eidgenössischen Räte über die Unternehmenssteuerreform III. Was am Schluss herausgekommen ist, nannten die Verantwortlichen einen Kompromiss. Der bestand letztlich darin, dass man den Kantonen etwas entgegenkam und nicht ganz jede Steuersenkungsidee, die auch noch herumschwirrte, berücksichtigt hat. Das Resultat: Wir ersetzen eine bestehende Schlaumeierei (Sonderprivilegien für Holding-Gesellschaften) mit einer neuen (zinsbereinigte Gewinnsteuer). Steuerausfälle: Mindestens 1,3 Milliarden Franken beim Bund. Ausfälle in den Kantonen und Gemeinden: Unbekannt. Die Bündner Finanzdirektorin Barbara Janom Steiner sagt dazu in einem Interview mit der ‹Südostschweiz›: «Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir derzeit nicht abschätzen können, wie sich die USR III im Gesamtergebnis auf die Schweiz und die Kantone auswirken wird; dies hängt davon ab, welche Massnahmen die einzelnen Kantone ergreifen. So gesehen ist die USR III eine Blackbox.»
Tatsächlich: Es ist noch unsicher, was in den einzelnen Kantonen passieren wird. Der Kanton Waadt ist bereits vorgeprescht, andere werden folgen. Die Waadtländer haben die Unternehmenssteuern von 22 Prozent auf 14 Prozent gesenkt. Erkauft wurde die Zustimmung für die Steuersenkung, indem die Unternehmen höhere Familienzulagen bezahlen und einen grösseren Beitrag für Kinderbetreuung ausgeben. Die Steuervorlage wurde dann auch mit 87 Prozent der Stimmen und der Unterstützung der SP angenommen. Allerdings habe ich leichte Zweifel, dass diese Form von Voodoo-Ökonomie – also dass weniger Einnahmen am Schluss mehr Einnahmen ergeben – funktioniert. Zudem ist letztlich der Kanton Waadt ein Paradebeispiel für das System, das uns überhaupt diese Bredouille eingebrockt hat, wie Ruedi Strahm schon 2014 im ‹Tages-Anzeiger› schrieb: «Einige Kantone, vornehmlich solche mit Seeanstoss, haben Tiefststeueroasen geschaffen mit einem intransparenten Geflecht von Steuerprivilegien, Pauschalsteuern und Sondersteuern für ausländische Superreiche sowie für Sitz- und Holdinggesellschaften. Mit ihrer Anziehungskraft stiehlt diese Gruppe, zu der Zug, Schwyz, Nidwalden, die Waadt und Genf gehören, der ganzen Welt und den andern Kantonen jedes Jahr mehr Steuersubstrat.» Für Normalsterbliche sind diese Steueroasen hingegen weniger paradiesisch. Sie zahlen es mit einer hohen Einkommenssteuer wie im Kanton Waadt, mit unbezahlbaren Wohnungen wie im Kanton Zug oder mit Spar- und Leistungsabbau wie im Kanton Luzern.
Die SP hat bereits angekündigt, das Referendum zu ergreifen. Ob sie damit Erfolg haben wird, ist offen. Es ist schliesslich eine komplexe Vorlage. Und sie hat die Kantone nicht auf ihrer Seite. Aber – wer nicht an den Storch oder die Laffer-Kurve glaubt, weiss, dass weniger nicht mehr gibt. Die Steuerausfälle – man erinnere sich an die Unternehmenssteuerreform II – werden womöglich noch grösser ausfallen, als sie jetzt geschätzt werden. Dies zu einem Zeitpunkt, wo der Bund und die Kantone schon jetzt Leistungsabbaupakete schnüren. Letztlich geht es aber um eine grundsätzliche Frage, wie die NZZ es durchaus treffend formulierte: «Im Kern geht es um die Frage, ob das Land weiterhin eine attraktive Steuerpolitik für international mobile Unternehmen will.»
Oder anders gefragt: Müssen wir also einer Reform mit unbekannten Folgen zustimmen, um das Geschäftsmodell einiger Kantone zu erhalten? Müssen wir den Abwanderungserpressung von mobilen Unternehmen nachgeben? Wäre es nicht letztlich klüger, auf ein nachhaltigeres Geschäftsmodell zu setzen? Dabei geht vergessen, dass längst nicht alle Kantone so von Statusgesellschaften abhängen. Daniel Leupi, Finanzvorsteher der Stadt Zürich, weist in einem Interview mit dem ‹Tages-Anzeiger› darauf hin, dass die Stadt Zürich rund 900 Millionen Franken aus Firmensteuern einnimmt. Nur rund acht Prozent davon stammen aus Statusgesellschaften. Davon würden einige den Standort Zürich auch nicht unbedingt verlassen, wenn die Sonderprivilegien fallen würden. Die zinsbereinigte Gewinnsteuer hingegen sei ein «Schuss in die Dunkelheit mit verbundenen Augen.»
Der SVP-Nationalrat Andreas Glarner kam diese Woche wieder einmal in die Schlagzeilen. Auf Twitter verbreitete er eine unwahre Geschichte, wonach der Bund in Chiasso 500 Rentnern die Wohnung kündigen wolle, um Platz für Asylsuchende zu schaffen. Auf die Kritik von zwei Frauen, die an seiner Geschichte zweifelten, reagierte er so primitiv wie vorhersehbar: Er würdigte deren Aussehen herab. Das löste dann wiederum die entsprechenden Reaktionen aus. Seither hat Glarner seinen Twitter-Account gelöscht, weil er sich von Linken angefeindet fühlte. Auf Facebook – und in den Medien – legte er unter Anfeuern seiner Anhänger noch einen drauf: Er könne nichts dafür, wenn die beiden Frauen so aussehen, liess er sich im ‹Blick› zitieren. Nun ist er beileibe nicht der erste (SVP)-Politiker, der wegen seinen Aktivitäten auf Twitter in die Schlagzeilen geriet. SVP-Nationalrat Claudio Zanetti zahlte den Preis dafür, indem er nicht zum Präsidenten der SVP Kanton Zürich gewählt wurde.
«Es si alli so nätt», beklagte sich Franz Hohler einst in einem Lied. Und beschrieb dabei die Schweiz und die Schweizer Politik ganz treffend. Plötzlich wird man in einen Rat oder in eine Schulpflege gewählt und lernt Politikerinnen und Politiker aus anderen Parteien kennen. Und merkt: Sie haben vielleicht eine ‹falsche› politische Haltung. Aber sie sind trotzdem nett. Der scharfe Auftritt ist oft bloss eine Rolle, die sie spielen, und die sie dann auch wieder ablegen können.
Doch wenn man jahrelang eine Stimmung schürt, lassen sich die Folgen plötzlich nicht mehr kontrollieren. Und so werden Wutbürger wie Andreas Glarner Nationalräte. Oder US-Präsidentschaftskandidaten. Das Establishment windet sich. Was Donald Trump von sich gebe, sei «lehrbuchartiger Rassismus», lässt sich Paul Ryan, der Präsident des Repräsentantenhauses, öffentlich zitieren. Trotzdem werde er ihn unterstützen. Dass er sich fremdschämt, ist dennoch offensichtlich. Albert Rösti, neuer SVP-Präsident und als ‹nett› bekannt, wird es wohl ähnlich gehen. Die Monster, die sie mit ihrer Politik geschaffen haben, machen sich selbstständig.
«Das haben wir den Linken und den Netten zu verdanken», schrieb die SVP einst in ihren Inseraten und meinte es den Freisinnigen gegenüber nicht nett. Denn «nett» wie «Gutmensch» ist heutzutage eine Beleidigung und kein Kompliment. Und die Moral aus der Geschichte? In der Politik sind sowohl Blindflüge wie auch Blindgänger ein Problem.