Als die SP Schweiz 2010 ihr neues Parteiprogramm verabschiedete, arbeitete ich bei der SP Schweiz. Das Parteiprogramm wurde in der Deutschschweizer Presse unisono verrissen. Überwindung des Kapitalismus, Abschaffung der Armee, EU-Beitritt: Die SP habe sich von der Juso ein radikales Parteiprogramm aufdrücken lassen. Oder wie Hannes Nussbaumer im ‹Tages-Anzeiger› schrieb, die SP-Delegierten hätten sich am Parteitag so aufgeführt, «als befänden sie sich in einem Casting-Wettbewerb – gesucht: Switzerlands next Top-Marxist. Die Mittelstands- und Bundesratspartei inszeniert sich als Oppositionsorgan der geknechteten Arbeiterschaft.» Tatsächlich erhielten wir einige negative Reaktionen von Sektionen, Mitgliedern und WählerInnen. Wir haben die Mails beantwortet, mit den KritikerInnen diskutiert. Nach einiger Zeit beruhigte sich alles wieder. Aber obwohl ich die Formulierung «Überwindung des Kapitalismus» weder falsch noch schlimm finde, frage ich mich zuweilen, ob es wirklich sinnvoll war, diesen Satz im Parteiprogramm zu belassen. Zu fest ist er einfach ein Popanz, der uns bei jeder Gelegenheit um die Ohren gehauen wird und den viele auch nicht wirklich verstehen (wollen).
Und so habe ich bei der Diskussion um das SP-Papier zur Wirtschaftsdemokratie ein wenig ein Déjà-vu. Dabei ist der Sinn des Papiers eigentlich, die abstrakte Ebene zu verlassen und konkreter zu werden. Wirtschaftsdemokratie bedeutet: Die Wirtschaft soll demokratischer werden, mehr Mitsprache und mehr Teilhabe für alle bieten. «Wir wollen eine Wirtschaft, die nicht nur nach Gewinnmaximierung strebt. Eine Wirtschaft, die zeigt, dass man erfolgreich sein kann, ohne Natur und Personal auszubeuten», begründet SP-Vizepräsidentin Barbara Gysi die Vision Wirtschaftsdemokratie gegenüber der ‹Aargauer Zeitung›. Im Papier werden zwanzig Forderungen gestellt, von der Mitarbeiter-Gewinnbeteiligung bis zu einer Ausweitung des Service publics. Man wollte möglichst konkrete Forderungen stellen, so Cédric Wermuth: «Wir wollten ja gerade die Diskussion aus dem Utopischen herausheben und Beispiele entwerfen, wie sich die Wirtschaft zum Positiven entwickeln kann.»
Jetzt ist aus dem Papier plötzlich eine Debatte zur Ausrichtung der Partei geworden. Christian Levrat glaubt darin sogar das Mittel gefunden zu haben, Trump zu besiegen, wie er der ‹Sonntags-Zeitung› gegenüber schildert: «Die Auseinandersetzung mit der populistischen Rechten gewinnt man nicht mit der Diskussion über deren Fremdenfeindlichkeit, sondern mit der Debatte über die soziale Frage. Kurz und provokativ: Die Antwort auf die Fremdenfeindlichkeit ist der Klassenkampf», betont er.
Eine Gruppe rund um die Aargauer Ständerätin Pascale Bruderer hingegen will das Papier zurückweisen. Sie will stattdessen auf die soziale Marktwirtschaft setzen und ist der Meinung, die Digitalisierung im Papier fehle. Das Konzept sei weit von der wirtschaftlichen Realität entfernt. Stadträtin Yvonne Beutler drückt es gegenüber der NZZ so aus: «In der Exekutive muss ich reale Probleme lösen. Was die SP im Positionspapier aufzeigt, sind jedoch sehr ideologische Lösungsansätze.» Hartmuth Attenhofer, ehemaliger SP-Kantonsrat, meint pointiert: «Wenn ich so etwas lese, schlafen mir die Füsse ein.»
Für die Medien ist das Fazit klar: Das Papier ist ein Rückgriff in die Mottenkiste. Die SP fahre mit Vollgas zurück in die Vergangenheit, kommentierte etwa die ‹NZZ›. Die SP würde sich mit dem Klassenkampf einen dicken Knüppel zwischen die Beine werfen, findet die ‹Aargauer Zeitung›.
Damit wird das Papier aber etwas gar hoch gehängt: Selten wurde eine Wahl durch ein Positionspapier entschieden. Man kann schon froh sein, wenn es nicht total sang- und klanglos in der Schublade verschwindet. Daher ist es eigentlich eine wunderbare Sache, dass dieses Papier jetzt breit diskutiert wird.
Das Problem an der Diskussion: Man spricht bloss über den «Klassenkampf», aber nicht über den Inhalt des Papiers. Viele darin enthaltenen Forderungen sind nämlich weder sonderlich klassenkämpferisch noch revolutionär. Neu sind sie auch nicht. Die Mitbestimmung am Arbeitsplatz ist in Deutschland seit den 1970er-Jahren verankert und die konservative britische Premierministerin Theresa May spricht davon, dies für Grossbritannien einzuführen. Es gibt eine Reihe von erfolgreichen Unternehmen, die vollständig in der Hand von Mitarbeitenden sind. Soziale und ökologische Unternehmen sollen gefördert werden, Kantonalbanken lokale KMU unterstützen. Hätte das Papier eine leicht andere Rhetorik, so könnte man es auch als Plädoyer für mehr Unternehmertum verstehen. Susanne Leutenegger Oberholzer kritisiert denn auch das SP-Papier von links, es sei völlig harmlos, «CVP-Zuckerwasser der 1970er Jahre», twitterte sie unlängst.
In diesem Sinne ist das Papier auch nicht inkompatibel mit der Marktwirtschaft – geschweige denn der sozialen Marktwirtschaft. Marktwirtschaft ist nicht dasselbe wie Kapitalismus. Denn Marktwirtschaft bedingt einen Staat, der eingreift, lenkt und kontrolliert. Selbstverständlich kann man das Papier auch inhaltlich kritisieren. Tatsächlich ist die Digitalisierung im Papier nur am Rande erwähnt. Das ist schade, weil gerade die Digitalisierung Chancen für eine vermehrte Mitbestimmung und nicht hierarchische Führungsformen bietet. Man kann sich auch fragen, ob Mitbestimmung das drängendste Problem ist und ob es wirklich viele Leute hinter dem Ofen hervor lockt – schliesslich ist die entsprechende Initiative in den 1970er-Jahren schon gescheitert und das Betriebsratsmodell in Deutschland hat durchaus auch problematische Seiten, wie gewisse Korruptionsskandale gezeigt haben.
Ich habe mit einem kleinen bisschen Neid verfolgt, wie die GLP ein eigenes Denklabor eingerichtet hat: Das glp.lab will als offenes Politlabor Zukunftsthemen besprechen und Ideen generieren. Dabei habe ich vergessen, dass wir diese Diskussionskultur schon haben. Wir reden über Zukunftsthemen und über Ideen. Auch über solche, die nicht oder noch nicht mehrheitsfähig sind. Martin Waser, der den Rückweisungsantrag mitunterzeichnet hat, forderte in der ‹NZZ› «eine Diskussion, die sich gewaschen hat». Das will ich auch. Auch über den Parteitag hinaus.