«Ich werde die Menschenrechte zerstören (rip up) und die Gesetze ändern, wenn sie uns daran hindern, den Terrorismus zu bekämpfen», meinte die englische Premierministerin Theresa May im Nachgang zu den Terroranschlägen in Manchester und London. Das kann man auch als Wahlkampfgeplänkel einer zunehmend nervösen May abtun. Oder als Ausdruck der allgemeinen Hilflosigkeit, wenn es um so etwas unfassbar sinnloses wie Terrorismus geht. Letztlich geht es aber auch um eine verbreitete Vorstellung, dass Menschen- und Grundrechte eine Art Schönwetter-Luxus sind, den man sich nicht mehr leisten kann, wenn es wirklich ernst wird (die SVP will sie ja sogar ohne Terror-Attacken abschaffen).Nach dem Attentat von 9/11 wurde in den USA darüber diskutiert, ob nicht Folter in Verhörmethoden bei Terroristen zulässig sei. Beziehungsweise, dass gewisse Verhörmethoden wie Waterboarding nicht als Folter zählen dürften. So sah es jedenfalls das Justizdepartement der Bush-Administration. Passend dazu: Agent Jack Bauer in der damals populären Fernsehserie «24», der oft nach dem Motto handelte: Zuerst foltern, dann fragen. Die schrecklichen Bilder aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib, in dem amerikanische WärterInnen irakische Gefangene gefoltert, vergewaltigt und gepeinigt hatten, setzten dieser Folter-Rechtfertigung ein abruptes Ende. Nun ist mittlerweile – mit Ausnahme des amtierenden US-Präsidenten – wieder der Konsens eingetreten, dass Folter nicht nur grausam und unmenschlich ist, sondern auch relativ wenig zur Informationsgewinnung beiträgt, ja gar kontraproduktiv ist. Dass aber Grund- und Menschenrechte bei Terroranschlägen unter Druck kommen, hat sich nicht geändert. Da macht es auch leider nicht unbedingt einen Unterschied, ob es sich um konservative oder sozialdemokratische Regierungen handelt. Das Rezept ist stets: Eine Erhöhung und Intensivierung der Überwachung. Und zwar der Überwachung aller. Die Frage ist, ob dieses Rezept überhaupt nützt. Der Internet-Experte Sascha Lobo hat in seiner Kolumne im ‹Spiegel› die Attentate seit 2014 miteinander verglichen und dabei festgestellt: Seit 2014 verübten 24 Täter 13 islamistische Anschläge in Europa – und alle 24 Täter waren den Behörden bekannt. Sei es, weil sie in islamistische Kriegsgebiete reisten oder weil sie mit einer Gewalttat straffällig geworden waren. 22 der Attentäter hatten zudem Kontakte mit anderen Islamisten oder islamistischen Netzwerken. 21 waren auf verschiedenen Terror-Warnlisten. Der islamistische Attentäter Anis Amri, der in Berlin mit einem Sattelschlepper elf Menschen tötete und 55 weitere verletzte, ist für ihn das krasseste Beispiel dafür. Amri wurde in Italien wegen Brandstiftung und Körperverletzung verurteilt, während der Haft stiess er Drohungen gegen Andersgläubige aus. Er war nach der Haft Teil eines Hildesheimer Terrornetzwerks und erzählte einem V-Mann von geplanten Anschlägen. Amri war auf einer No-Fly-Liste der USA. Der marokkanische Geheimdienst warnte die deutschen Behörden zweimal vor Amri, unter expliziter Erwähnung einer Anschlagsgefahr. Nun ist die Verhinderung eines Anschlags natürlich nicht ganz einfach und Behörden sind auch nicht vor Fehlern gefeit. Und ganz grundsätzlich lässt sich in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht alles verhindern und man kann nicht jeden Verdächtigen präventiv einsperren. Dennoch fragt sich Lobo: «Mir ist immer noch nicht klar, warum etwa die Vorratsdatenspeicherung der Telefonate meiner Ehefrau mit mir gegen den Terror helfen soll, wenn Anschläge fast immer von einschlägig behördlich bekannten Islamisten begangen werden. Mir ist immer noch nicht klar, warum meine Grundrechte angegriffen und abgebaut werden, wenn eine Person wie Anis Amri frei herumlaufen, Waffen besorgen und behördenbekannt von Anschlägen schwärmen kann.»
Die Schweiz ist bis anhin zum Glück von einem Terror-Anschlag verschont geblieben. Wir können daher kaum nachvollziehen, wie so ein Anschlag eine Gesellschaft verändert. Dennoch brennen auch hierzulande einige Sicherungen durch. So etwa beim CVP-Parteipräsidenten Gerhard Pfister, der auf Twitter den Linken vorwirft, dass sie islamistischen Terror verharmlose: «Linke wollen keinen Handbreit den Nazis geben. Richtig so. Aber bei islamistischen Idioten schweigen Linke. Peinlich.» Das führte zu einem heftigen Dialog auf Twitter, wo sich auch Christian Levrat recht unzimperlich einmischte und Pfister als «Mini-Trump» bezeichnete, der sich schämen sollte. Was Pfister zu dieser Attacke bewogen hat, bleibt unklar. Der Terror-Bekämpfung dient der Angriff auf einen politischen Gegner, der die gleichen demokratischen Werte teilt, wohl kaum. Ebenso unsinnig scheint mir die Diskussion darüber, ob der islamistische Terror etwas mit dem ‹Islam› zu tun hat oder nicht. Natürlich hat er das. So wie die Inquisition oder die Kreuzzüge etwas mit dem Christentum zu tun hatten. Was aber nicht heisst, dass das Christentum zwangsläufig zum Kreuzzug führen muss. Oder der Islam zum islamistischen Terror. Dass Religion als Begründung für Gräueltaten herhalten musste, ist beileibe nicht etwas Neues unter der Sonne. Dennoch hat die überwältigende Mehrheit der Christen und der Muslime weder mit Kreuzzügen noch mit Terror etwas am Hut. Viele der islamistischen Attentäter wurden sogar von ihrem muslimischen Umfeld den Behörden gemeldet. Alle Muslime und den Islam an und für sich zu verteufeln, ist daher schlicht Hetze und hat nichts mit Tabuisierung zu tun. Häufig verdecken gesetzlicher Aktivismus und Massnahmen einfach eine gewisse herrschende Ratlosigkeit. Keith Starmer, Labour Brexit-Schattenminister und ehemaliger Staatsanwalt, der Erfahrung mit Terrorfällen hat, meinte, dass es nicht nötig sei, Gesetze anzupassen oder die Menschenrechte zu opfern. Viel wichtiger sei es, dass es genügend Polizisten gäbe und die Strafverfolgung genügend Ressourcen hätte, um Hinweisen nachzugehen und Beweise zu sammeln. Gerade hier wurde in den letzten Jahren als Folge der Austeritätspolitik extrem gespart. Sacha Lobo zielt in die gleiche Richtung: Mehr Ressourcen vor Ort statt flächendeckender Datensammlungen. Ich will mir nicht anmassen, zu wissen, was zu tun ist. Doch mir scheint diese Argumentation doch plausibel. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte wurde am 10. Dezember 1948 verabschiedet. Sie war auch eine Reaktion auf die düsteren Zeiten zuvor. Das Gegenteil eines Schönwetter-Programms also. Es ist zu hoffen, dass das nicht ganz vergessen geht.