Der Zuschlag von 70 Franken für NeurentnerInnen sei ein bedauernswertes «Zückerchen», schreibt der Politgeograph Michael Hermann in seiner Kolumne im ‹Tages-Anzeiger›. Das sei keine sinnvolle Massnahme, sondern ein «rein abstimmungstaktisch motiviertes Überzuckern». Und das Problem sei, dass künftig – frei nach Mary Poppins – immer noch etwas Zucker in eine Reform getan werden muss, damit das Volk die bittere Medizin schluckt. 

 

Diese Zückerchen-Metapher – Hermann ist mit seiner Position nicht allein – ist leider mehrfach problematisch. Zum ersten im ganz konkreten Fall: Die 70 Franken sind kein Abstimmungszückerchen, sondern eine ganz reale Kompensation für Rentenverluste in der zweiten Säule. Zum zweiten: Von Zückerchen reden wohl hauptsächlich Leute, für die 70 Franken im Monat mehr oder weniger nicht so gross drauf ankommen. Ganz anders ist dies gerade für jene, die mehrheitlich auf die AHV angewiesen sind.

 

Was mich aber vor allem stört an dieser Zückerchen-Metapher ist, dass man offenbar mittlerweile grundsätzlich davon ausgeht, dass Reformen im besten Fall nur eine kleine Verschlechterung mit sich bringen. Im Normalfall aber richtig wehtun sollen: Rosskuren, Schock-Therapie, den Gürtel enger schnallen. Wie im Mittelalter muss der Patient erst tüchtig leiden, bevor es ihm besser gehen soll. Auch wenn – wie im Mittelalter – diese Kuren in der Praxis beileibe nicht immer erfolgreich sind: Die Austeritätspolitik lässt grüssen. Vorbei die Zeit also, als Politik noch den Anspruch hatte, das Leben der Menschen tatsächlich zu verbessern.

 

1941 propagierte US-Präsident Franklin D. Roosevelt die vier Freiheiten, die jeder Mensch auf der Welt geniessen sollte: Die Freiheit der Rede, die Religionsfreiheit, aber auch die Freiheit von Not und die Freiheit von Furcht. Diese sollten nicht nur hehre Ziele sein, sondern auch konkrete Rechte werden. Wie wir wissen, sind diese vier Freiheiten weder in den USA noch in der ganzen Welt verwirklicht.

 

1964 verkündete US-Präsident Lyndon B. Johnson die «Great Society» (Grosse Gesellschaft). Die Vereinigten Staaten sollen nicht nur eine reiche und mächtige Gesellschaft sein, sondern eben eine grosse Gesellschaft: Eine, die ein Ende der Armut bringe, ein Ende der Ungleichheit der Rassen. Eine Gesellschaft, die Überfluss und Freiheit für alle gewährleiste. Das sei das grosse Projekt der zweiten Häfte des 20. Jahrhunderts. Diese Initiative inspirierte viele AbsolventInnen von Elite-Universitäten. Heute treten sie nicht mehr in den öffentlichen Dienst, sondern heuern bei Hedge Funds oder im Silicon Valley an.

 

Wenn Politik nicht mehr dazu dient, das Leben der Menschen zu verbessern, wenn es das höchste der Gefühle ist, etwas Schlimmeres zu verhindern, dann ist es kein Wunder, wenn sich Menschen davon nicht inspiriert fühlen. Das kriegt vor allem die Linke zu spüren, die vor allem damit beschäftigt ist, Abbaumassnahmen abzumildern. Aber auch die von Rechten propagierten Ross- und Hungerkuren sind bei der Bevölkerung selten beliebt.

 

Dass sie dennoch umgesetzt werden können, hat – neben einer akuten Notlage eines Landes oder einer Region – damit zu tun, dass sich eine Art Nullsummen-Logik etabliert hat. Man geht heute immer davon aus, dass der Kuchen, der verteilt wird, immer gleich gross ist – oder sogar schrumpft. Um jemanden mehr zu geben, muss man jemand anderem was wegnehmen. Also macht man im besten Fall nichts. Im schlimmeren Fall nivelliert man ab nach unten. Es wird dabei komplett ausgeblendet, dass in den letzten Jahrzehnten der Reichtum nicht geschrumpft ist. Es ist höchstens die Verteilung, die sich geändert hat.

 

Die Nullsummen-Logik ist auch darum so erfolgreich, weil man immer Feindbilder aufbaut. Im Fall der Rentenreform sind nun die Babyboomer unter Beschuss. Eine ganz üble, egoistische Bande. Ihr grösstes Verbrechen: Sie sind so zahlreich. Das kostet. Dass sie dafür wenig können, ist egal. Man könnte ihnen höchstens vorwerfen, dass sie undankbare Kinder wie Andri Silberschmidt oder andere Jungfreisinnige auf die Welt stellten, die den eigenen Eltern die anständige Rente missgönnen.

 

Ein klassisches Beispiel für ebendiese Nullsummen-Logik findet man in der Argumentation des Komitees für die Änderung des Sozialhilfegesetzes. Es will, dass vorläufig Aufgenommene keine Sozialhilfe mehr erhalten, sondern nur noch Asylfürsorge, was sehr viel weniger ist. Die Begründung: «Es gibt auch AHV-Rentner und AHV-Rentnerinnen, die 44 Jahre in der Schweiz hart gearbeitet haben, monatlich aber weniger erhalten als eine Asyl-F-Person, die eigentlich das Land verlassen müsste». Nun haben jene Parteien, die massgeblich hinter diesen Änderungen stehen, die FDP und die SVP (CVP und BDP haben mittlerweile die Meinung gewechselt, die GLP flüchtete sich in eine Stimmfreigabe – von wegen progressiv), bis jetzt immer wacker dagegen gekämpft, dass sich die finanzielle Lage für AHV-Rentnerinnen und -Rentner verbessert. Es ist zu hoffen, dass dieses kalkulierte Ausspielen zweier prekärer Gruppen gegeneinander diesmal nicht verfängt.

 

Perfider ist nur noch das Giesskannenargument. Perfider darum, weil es vermeintlich sozial ist. Und darum sehr gut funktioniert. Eine Erhöhung der AHV (man könnte auch andere Beispiele nehmen) ist in dieser Logik unsozial: Weil ja alle eine Erhöhung bekommen, auch jene, die es nicht brauchen. Also auch die Millionäre. Stattdessen sollte man gescheiter nur den Ärmsten helfen. Das Argument mag ziehen, es zielt aber fadengrade am Grundprinzip des Sozialstaates vorbei. Dieser ist immer universell: Er wird von allen finanziert, und alle können ihn Anspruch nehmen. Die AHV ist zudem das sozialste aller Sozialwerke, weil gut Verdienende weitaus mehr einzahlen, als sie wieder zurückbekommen, aber auch sie bekommen etwas zurück. Die Alternative zum Sozialstaat: Die Wohltätigkeit, wo die Reichen und Mächtigen entscheiden, wer ihre Gnade verdient hat. Johann Heinrich Pestalozzi soll denn auch gesagt haben: «Wohltätigkeit ist das Ersäufen des Rechts im Mistloch der Gnade».

 

Die jetzt vorliegende Rentenreform ist keine Reform, die das Leben der Menschen massiv verbessert. Nein, es ist eben eine jener Reformen, in denen getan wird, was getan werden muss und was machbar ist. Sie ist ein klassischer Kompromiss. Das ist leider nicht viel. Aber heutzutage ist es auch nicht wenig.

 

About the author

Comments are closed.