Es war eine der mühsamen Debatten im Gemeinderat. Und wie oft bei besonders mühsamen Debatten sind sie erst kaum totzukriegen und kehren später als Wiedergänger zurück. Die Rede ist hier vom Spurabbau beim Bellevue. All diese Gemeinderatsdebatten, endlosen Diskussionen – ich hätte es erfolgreich verdrängt, müssten wir jetzt nicht – mindestens indirekt – noch einmal darüber befinden.
Aber beginnen wir einmal von vorne. 2011 beschloss der Stadtrat bei der Umgestaltung des Sechseläutenplatzes eine – wenig befahrene Spur – am Utoquai abzubauen, um mehr Platz für den Platz selbst und den Veloverkehr zu gewinnen. Da für die SVP – und mittlerweile auch die FDP – ein Spurabbau schlimmer ist als die Amputation eines Gliedes, wehrten sie sich heftig dagegen. Die SVP brachte immerhin noch ins Spiel, dass sie sich eigentlich lieber eine Wiese gewünscht hätte, bei der FDP gings nur um die Spur: Beide Fraktionen lehnten die Weisung ab und ergriffen das Behördenreferendum. Das Volk fand für jene Argumentation kein Gehör und stimmte Neugestaltung samt Spurabbau in einer Volksabstimmung zu. Dann hätte man es ja dabei belassen können.
Die Geschichte ging natürlich weiter. Denn: Der damalige Volkswirtschaftsdirektor und heutige Finanzdirektor Ernst Stocker (SVP) beschloss, den Spurabbau nicht zu genehmigen. Böse Zungen behaupten, dies sei vor allem darauf zurückzuführen, dass der arme Ernst Stocker durch die täglichen Telefonanrufe von Mauro Tuena, dem damaligen SVP-Fraktionspräsidenten des Gemeinderats, zermürbt wurde. «Ich bin nicht der Vogt von Zürich», beteuerte Stocker damals auf die Kritik hin, dass sich der Kanton hier einmische. Die Stadt entschloss sich, den Entscheid gerichtlich anzufechten, und erhielt vom Verwaltungsgericht recht. Grünes Licht also für den Spurabbau, der im Übrigen problemlos und ohne den befürchteten Rückstau über die Bühne ging. Dann hätte man es ja dabei belassen können. Das taten die Bürgerlichen selbstverständlich nicht.
Zuerst noch einmal ein Blick zurück: Dass die Stadt Zürich verkehrspolitisch ständig Dinge beschloss, die den Bürgerlichen in Stadt und Kanton Zürich nicht passten, war ihnen schon länger ein Dorn im Auge. Dann hatte die Stadt noch so eine fürchterliche grüne Tiefbauvorsteherin, und das sollte generell nicht unbestraft sein. Weil die Bürgerlichen mit ihrer Verkehrspolitik in der Stadt weder im Gemeinderat noch im Volk Mehrheiten fanden, sollte es der Kanton für sie richten. 2011 hätte ein neues Strassengesetz der unbotmässigen Stadt Zürich den Meister zeigen sollen. Geplant war, dass die Städte bei der Verkehrsplanung weitgehend entmachtet und diese vollständig dem Kanton übertragen würde. Dass der Kanton dazu weder die Kapazitäten noch das Know-how hätte, was erst teuer neu aufgebaut werden müsste, ist natürlich egal. In einer glücklichen Fügung beschloss die SVP im Kantonsrat, das Strassengesetz abzulehnen, und selbiges wurde in einer unheiligen Allianz versenkt. Doch auch dieses Gesetz ist natürlich ein Wiedergänger. Kantonsräte aus der FDP wollen eine Neuauflage, selbst wenn sie jetzt damit nicht mehr eine grüne, sondern einen freisinnigen Tiefbauvorsteher entmachten.
Nun aber zurück zum Spurabbau beim Bellevue. Die SVP war natürlich nicht bereit, diese Niederlage zu akzeptieren. Sie entschloss sich dazu, eine kantonale Initiative zu lancieren, die sie hübsch mit Anti-Stau-Initiative betitelte. Die Anti-Stau-Initiative wollte die grundsätzliche Privilegierung des motorisierten Individualverkehrs in die Verfassung schreiben. Eine Reduktion der Kapazität soll dabei explizit ausgeschlossen werden. Das Wohl des Volkes misst sich am Willen des Autofahrers oder so. Weil der Regierungsrat nun doch nicht total unvernünftig ist, machte er zur Initiative einen Gegenvorschlag, der zwar die Bedeutung des motorisierten Individualverkehrs herausstreicht, aber dennoch einen gewissen Spielraum beliess. Dabei hätte man es belassen können. Da der Kantonsrat aber (je länger je mehr) nicht sonderlich vernünftig ist, wollte er sich damit nicht zufrieden geben. Und so formulierte er einen Gegenvorschlag ganz im Sinne der Initianten. Es darf nach diesem Gegenvorschlag also niemals mehr zu einer Kapazitätsreduktion für den motorisierten Individualverkehr kommen. Wird also beispielsweise für ein Bauprojekt eine Spur reduziert, muss dies in der unmittelbaren Umgebung kompensiert werden. Wenn damit einfach auf alle Zeiten verhindert würde, dass je wieder eine Spur am Bellevue abgebaut würde, könnte man ja noch damit leben. Aber diese Bestimmung führt dazu, dass jedes Verkehrsberuhigungsprojekt in jeder Gemeinde ab sofort in der Schublade verschwindet. Kein zusätzlicher Fussgängerstreifen bei einem Schulhaus oder Veloweg könnte noch gebaut werden, weil dies eine Verminderung der Kapazität bedeutet. Das ist komplett unsinnig und kann eigentlich auch nicht im Sinne bürgerlicher WählerInnen sein, die im konkreten Fall ja durchaus auch mal froh sind, wenn Schulwege gesichert und Quartierstrassen beruhigt werden.
Besonders ärgerlich bei der ganzen Geschichte: Die SVP, die gerne so tut, als seien Volksabstimmungen heilig und das Verdikt des «Volks, des Souveräns, unseres Chefs» (Mauro Tuena) in jedem Fall zu akzeptieren. «Wenn in der Schweiz das Volk spricht, haben Politiker zu schweigen», dies sagte weiland schon der Heiland aus Herrliberg. Das gilt allerdings offensichtlich nur für den Fall, dass das Volk auch die Meinung der SVP vertritt. Nun darf man freilich auch mal inkonsequent sein. Es ist aber bezeichnend, dass eine Partei, die den «Volkswillen» systematisch rhetorisch überhöht, diesen in der Praxis immer wieder gerne vollständig ignoriert. Dasselbe gilt für die Gemeindeautonomie. «Hallauer Recht bricht Bundesrecht», meinte Gerhard Blocher im berüchtigten Dokumentarfilm, der wohl das Seine zur Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat beigetragen hat. Und wehe, wehe, es ist ein fremder Richter aus Strasbourg. Wenn es aber um die Stadt Zürich geht, so ist das piepegal. Da wünscht man sich die fremden Richter gerne aktiv dabei. Man applaudiert, wenn der Regierungsrat Entscheide des Volks missachtet oder Entscheide des Gemeinderats ignoriert, wie jüngst beim Richtplan.
Ich erinnere mich an vielfaches Wehklagen der SVP über die Arroganz der Macht im Gemeinderat Zürich. Aus Berner Sicht muss ich jetzt sagen, dass wir weidlich nett und rücksichtsvoll mit politischen Minderheiten umgegangen sind. Und zwar weitaus netter und rücksichtsvoller, als es die politische Mehrheit in Bern – zu der die SVP gehört – tut. Man muss die Praxis nicht ändern im Gemeinderat. Aber der SVP immer wieder ihre Widersprüche um die Ohren hauen.