Am Dienstagabend war ich an der Premiere von Sabine Gisigers neuem Film «Willkommen in der Schweiz». Der Dokumentarfilm beginnt im Jahr 2015 und erschien mir dennoch manchmal wie aus einer ganz anderen Zeit. «Willkommen in der Schweiz» handelt von der Kontroverse rund um die Flüchtlingsunterbringung in Oberwil-Lieli. Zur Erinnerung: Der Gemeindepräsident, SVP-Nationalrat Andreas Glarner, wollte sich von der Verpflichtung, Flüchtlinge in der Gemeinde unterzubringen, freikaufen, indem die Gemeinde eine Busse zahlen würde. Eine Gruppe engagierter BürgerInnen, angeführt von der Studentin Johanna Gündel, wehrte sich dagegen und erzielte an der Gemeindeversammlung einen Überraschungserfolg.
Die Mehrheit der Gemeinde stellte sich gegen den Gemeinderat und befürwortete die Aufnahme von Flüchtlingen. Dagegen ergriff eine andere Gruppe von BürgerInnen das Referendum. Es kam zur Urnenabstimmung, in der das Resultat der Gemeindeversammlung wieder gekippt wurde: 52 Prozent sprachen sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen aus. Der Film erzählt die Ereignisse anhand von Gesprächen mit den drei ProtagonistInnen Andreas Glarner, Johanna Gündel und der damaligen Aargauer Regierungsrätin Susanne Hochuli. Er bleibt zurückhaltend in der Kommentierung, auch wenn die Haltung der Regisseurin klar und bekannt ist.
Der Film ist sehens- und empfehlenswert, aber mir geht es hier nicht um Filmkritik, sondern um etwas anderes. Der Film hat mich wieder an die Zeit im Sommer und Herbst 2015 erinnert. Damals gab es in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich eine sehr grosse Solidarisierung der Bevölkerung mit den Flüchtlingen. Das Elend der zerbombten syrischen Städte, die sinkenden Boote auf dem Mittelmeer, die unwürdigen Zustände in gewissen Flüchtlingslagern, die Flüchtlinge, die in einem Lastwagen elendig erstickt sind, das Bild des kleinen toten Jungen am Strand. Diese Ereignisse und Bilder hatten viele erschüttert. Die Betroffenheit ging bis in die Mitte der Gesellschaft und viele – nicht nur die unverbesserlichen linken Gutmenschen – wollten helfen, sich engagieren, etwas tun. Heute – zwei Jahre später – herrscht eher Ernüchterung.
Dieser Stimmungsumschwung spiegelt sich auch in den Wahlergebnissen. In Deutschland bleibt die CDU nach den Wahlen zwar mit Abstand stärkste Partei. Sie musste aber deutliche Verluste hinnehmen. Besonders die Schwesterpartei CSU – die in der Flüchtlingsfrage einen härteren Kurs fordert – hat Stimmen verloren. Profitiert haben die kleinen Parteien – und die AfD. In Österreich gewann der Jungstar Sebastian Kurz mit seiner «neuen Volkspartei». Im Gegensatz zu Emmanuel Macron, der sich als Antipopulist verkaufte, war Kurz in der Flüchtlingsfrage klar auf der rechten Seite, vom Wiener ‹Falter› wurde er wegen dieser Mischung aus smart und rechts als «Neofeschist» bezeichnet. Ebenfalls klar dazugewinnen konnte die rechte FPÖ, deren Spitzenkandidat Heinz-Christian Strache sich allerdings recht staatsmännisch gab. Massiv abgestürzt sind die österreichischen Grünen, die sich als einzige Partei in Österreich zu einer offenen Flüchtlingspolitik bekannten. Ihren massiven Verlust haben sie aber in erster Linie internen Querelen zu verdanken. Trotzdem scheint klar, dass die Flüchtlingspolitik eine entscheidende Rolle gespielt hat. Man muss hier auch sagen, dass sie in beiden Ländern weitaus spürbarer war als in der Schweiz.
Was hat die Stimmung gekippt? Vielleicht war es die Kölner Silvesternacht, vielleicht die Terroranschläge, vielleicht aber einfach auch die Erkenntnis, die immer schon klar war – nämlich, dass die Integration von Flüchtlingen nicht einfach ein Ponyhof sein wird. Aber die Stimmung ist gekippt und zwar dort, wo es darauf ankommt: In der Mitte.
Das Problem allerdings sind nicht die Rechten, sondern der Umgang aller anderen mit ihnen. Das Problem ist, dass wir es – in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich und auch sonst praktisch überall – zugelassen haben, dass sie den politischen Diskurs und die Agenda vollständig bestimmen. Dazu gehört auch, dass wir es zulassen, dass sie sich beständig als Opfer inszenieren. Seit Jahren wissen wir nicht, ob man gegen sie protestieren oder sie einfach ignorieren soll. Denn beides funktioniert nicht. Und am Ende wird einer von den Rechten sich als Opfer des linken Mainstreams und der ‹Lügenpresse› inszenieren können. Und überhaupt wird man wohl doch noch «Mohrenkopf» sagen dürfen. Oder wie Mely Kiak in der ‹Zeit› schreibt: «Wie umgehen mit Rechten?» ist der Klassiker des ‹Wehret den Anfängen›-Diskurses. Dürfen sie reden, müssen sie reden, können sie reden? Der Witz dabei ist, dass sie permanent reden.»
Das zweite Problem: Es geht nicht um Lösungen. Es geht um Gefühle. In einem nicht besonders guten Film aus den 1990er Jahren mit dem Titel «White men can’t dunk» gibt es einen Witz, der sich auf die damals populären «Männer sind vom Mars, Frauen sind von der Venus»-Bücher, in denen es um Unterschiede der Geschlechter geht, aufbaute. Die Szene ging ungefähr so: Ein Mann und eine Frau liegen zusammen im Bett. Sie sagt zu ihm: «Ich habe Durst». Der Mann steht auf und holt ein Glas Wasser. Sie ist wütend. Er ist ratlos: «Warum bist du jetzt wütend?» Sie: «Ich wollte nicht, dass du mein Problem löst, ich wollte, dass du mitfühlst». Daran muss ich immer wieder denken, wenn es um Migrations- und Integrationspolitik geht. Selbstverständlich gibt es Probleme. Aber dafür gibt es auch Lösungen. Das ist es, was wir von linker Seite immer wieder vorschlagen. Nur wollen gewisse Leute keine Lösungen: Sie wollen, dass wir mit ihrer Wut mitfühlen. Und das kann man nicht, wenn man sie selber nicht fühlt.
Es gibt nun mal einen Teil der Bevölkerung, der rechts ist, konservativ und grundsätzliche Vorbehalte gegen MigrantInnen hat. Aber das heisst für alle anderen nicht zwingend, dass man seine Politik deswegen ändern muss. Der grösste Erfolg der Rechten liegt daran, dass sie die Mitte- und die Mitte-Rechtsparteien immer mehr auf ihre Seite ziehen konnten. Und dass rechte Positionen bis weit in die Mitte salonfähig wurden. Sie müssen die Wahlen nicht gewinnen, sie haben sie meist schon vor dem Wahltag gewonnen.
Was ist also der richtige Umgang mit der Rechten? Es gibt keinen. Es bleibt nur eines: Wir sollten aufhören, uns an der Rechten abzuarbeiten (das gilt auch für mich selbst). Und uns darauf konzentrieren, welche Politik wir eigentlich selber wollen. Also nicht das tun, was rechts ist, sondern was wir richtig finden.
Min Li Marti