Der britische Sinologe Joseph Needham widersprach in den 1930er Jahren dem gängigen, von Max Weber, Marx und Hegel geprägten China-Bild: Die überbordende Bürokratie Chinas sei nicht die Ursache von Stagnation, sondern im Gegenteil Treiberin eines bemerkenswerten wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts gewesen.  Anders als im China des 14. Jahrhunderts haben hierzulande und heutzutage Bürokraten keinen guten Ruf. Ich war noch nie an einem Podium, an dem nicht ein bürgerlicher Politiker oder eine bürgerliche Politikerin über Bürokratie, Überregulierung und sinnlose Gesetze geklagt hätte. Interessanterweise beklagen sich gerade diejenigen, die das Beklagte selber geschaffen haben. Schliesslich sind in den gesetzgebenden Gremien in der Schweiz überall die Bürgerlichen in der Mehrheit und in der Verantwortung. Es ist also ein klassisches Perpetuum Mobile – MC-Escher-Haus statt Kaspar-Escher-Haus.

Der amerikanische Ökonom und Historiker Philip Mirkowski vertritt die These, dass dies ein genialischer Plan der Neoliberalen sei. Diese würden zwar öffentlich so tun, als wären sie für einen schlanken Staat, am liebsten einen in Badewannen-Grösse, aber in Wirklichkeit seien sie für einen starken Staat – für sich selbst. Dazu passt die These, dass rechte WählerInnen im Gegensatz zu den PolitikerInnen, die sie wählen, nichts gegen einen starken Staat haben, sondern nur finden, der Staat müsse mehr für sie tun – statt für Flüchtlinge oder sonstige Feindbilder.
Meistens steckt allerdings in der Politik kein grosser Plan dahinter. Sondern einfach Fehlentscheidungen, wie es sie überall gibt, wo Menschen etwas tun. Und die meisten Fehler entstehen als Reaktion auf frühere Fehler. So verabschiedet man ein Gesetz mit den besten Absichten. Leider kommt dann nicht das heraus, was man eigentlich wollte.  Und dann – statt das Gesetz selber zu ändern oder wieder aufzuheben – schafft man eine Reihe von neuen Gesetzen, um die Probleme zu beheben. Oder man macht ein Gesetz, weil man einen Missstand sieht und dagegen was tun will. Vom Konkreten wird es dann Generell-abstrakt und immer grösser:  Am Schluss hat man das Bein abgeschnitten, weil der Zeh juckte.

Die letzten beiden Kantonsratssitzungen waren dafür bester Anschauungsunterricht. Zum Beispiel die Auslagerung der Integrierten Psychiatrie Winterthur-Zürcher Unterland. Man muss die Klinik in eine Aktiengesellschaft umwandeln, weil sie sich dem Markt und dem Wettbewerb stellen muss. Und das muss sie, weil dies die neue Spitalfinanzierung so vorsieht. Das Problem ist nur, dass im Gesundheitswesen – und gerade in der Psychiatrie – der Markt gar nicht spielt. Die Idee hinter der neuen Spitalfinanzierung war es die Qualität zu verbessern und die Kosten zu senken, wie es auch der Bundesrat in der Gesetzesbotschaft schreibt: «Der mit der Vorlage bezweckte zunehmende Wettbewerb im Spitalbereich soll zu einer schrittweisen Optimierung von Produktionskosten und Qualität führen.» In Wirklichkeit führt es aber zu was anderem, wie ehemalige ChefärztInnen in der NZZ am Sonntag monieren: Dass heute nicht mehr das Patientenwohl im Mittelpunkt steht, sondern der Profit von ÄrztInnen, SpitalbetreiberInnen, Medizinal- und Pharmaindustrie. «Laut einer Studie der Ärztegesellschaft FMH beträgt die leistungsabhängige Prämie bei Chefärzten bereits einen Viertel des Lohnes. Die Folge: Ärzte operieren mehr und mehr, auch in jenen Fällen, in denen dies medizinisch nicht nötig ist.» Dadurch wird das System immer mehr aufgeblasen. Statt aber darüber nachzudenken, wie man die durch das Gesetz geschaffenen Fehlanreize beseitigt, sorgt man dafür, dass nun auch jene mittun, die es bis anhin noch nicht machten.

Ein zweites Beispiel: Offenbar hat ein Teil der BäuerInnen ein Problem mit der Kantonstierärztin beziehungsweise dem Veterinäramt. Zwei Vorstösse wollten, dass der Vollzug des Tierschutzes anders gelöst wird und die Aufgaben der Tierschutzkommission übertragen werden. Nun hat sich herausgestellt, dass das Anliegen teilweise gegen Bundesrecht verstösst. Der Kantonsrat will nun aber trotzdem was tun: Die Tierschutzkommission soll jetzt einfach in einem Rekursfall noch ein Gutachten verfassen können.  Das steht allerdings ziemlich quer in der Rechtslandschaft: Ein Wirt, der mit einer feuerpolizeilichen Anordnung nicht einverstanden ist und dagegen rekurriert, kann auch keine Feuerpolizeikommission mit einem Zweitgutachten beauftragen. Das Zweitgutachten hat zudem keinerlei rechtliche Verbindlichkeit.  Eine Kantonsratsminderheit war daher der Ansicht, dass dies zu mehr Bürokratie führe. Eine Mehrheit aus SVP, FDP, EDU und Grünen stimmte dennoch zu. Die FDP rettete sich damit, dass sie eine sogenannte ‹Sunset Legislation›-Klausel einbrachte. Nach zehn Jahren soll das Gesetz wieder überprüft werden Solche Klauseln sind im Moment gerade bei Freisinnigen in Mode. Die Ablauffrist töne zwar gut, wie Daniel Häuptli von den Grünliberalen ausführte, führt aber offenbar dazu, dass sie es leichter mache, sinnlose Gesetze zu verabschieden.
Eine Variante dieser Problematik: Wenn irgendetwas Schlimmes passiert und der besagte Fall gesetzlich nicht geregelt ist. Insbesondere medial kommt schnell der Ruf: Da muss etwas geschehen! Und dann sucht man so lange einen Politiker oder eine Politikerin, bis man jemanden gefunden hat, der genau diese Forderung erhebt. So geschehen bei den Kampfhunden. Und: In jedem Managementseminar und in jeder Sonntagspredigt wird eine Fehlerkultur gefordert. Wehe aber, wenn einer aus Politik und Verwaltung tatsächlich mal einen Fehler macht! Die Rücktrittsforderung in den Leitartikeln folgt sofort. Damit also keine Fehler passieren, braucht es natürlich Regeln und Kontrollen, um diese zu verhindern.

Es geht aber auch anders. So zum Beispiel bei der Besteuerung von Start-Up-Unternehmen. Der Kanton wollte mit der Änderung seiner Steuerpraxis eigentlich die Start-Ups fördern. Es drohte aber das Gegenteil: JungunternehmerInnen wären massiv steuerlich belastet worden, obwohl sie real gar kein Geld verdienen. Die Betroffenen wehrten sich, die Politik doppelte nach. Am Dienstag gab Regierungsrat Ernst Stocker bekannt, dass die Praxis wieder geändert wird.

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