Eine von der Sozialhilfe abhängige Familie wurde in einem Hotel untergebracht. Schwierige Jugendliche verbrachten ein Time-Out in Spanien. Zwei Whistleblowerinnen bemängelten mangelnde Kontrolle in der Sozialhilfe. Am 1. Mai 2007 brannte der BMW einer Sozialhilfeempfängerin. Der Missbrauch stand damals im Zentrum der Debatte. Niemand sei gegen die Sozialhilfe, sagte die SVP damals, sondern nur gegen jene, die die Sozialhilfe missbrauchten. Nach einigem politischem Hin und Her, dem Rücktritt der zuständigen Stadträtin und einer Kehrtwende in der Sozialbehörde wurde das Sozialinspektorat eingeführt. Danach war eine Zeitlang Ruhe.
Doch dabei blieb es nicht. Ein paar Jahre später standen die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) und deren Richtlinien unter Beschuss. Es ging nicht mehr um Missbrauchsfälle, sondern um Schwellenwerte: Arbeit würde sich nicht lohnen, mindestens nicht für Junge oder für Grossfamilien. Einige Gemeinden traten im Zuge der Diskussion aus der SKOS aus. Linda Camenisch (FDP), Willy Haderer (SVP) und Cyrill von Planta (GLP) verlangten im Kantonsrat, dass der Kanton Zürich ebenfalls aussteigt. Der Vorstoss scheiterte schliesslich trotzdem 2015 im Kantonsrat. Die SKOS reagierte auf die Kritik und setzte die Ansätze für Junge und Grossfamilien herunter.
Doch auch das genügte natürlich nicht. In diesem Jahr ging der Angriff weiter. Diesmal sollte man die Daumenschraube gleich allen ansetzen. Im Kanton Baselland stimmte der Landrat im April diesen Jahres mit 42 zu 41 Stimmen einem Vorstoss von Peter Riebli (SVP) zu, der den Grundbedarf in der Sozialhilfe um 30 Prozent kürzen will. Ausgezahlt wird pro Einpersonenhaushalt nur noch 690 Franken. Wer sich engagiert verhält, bekommt eine Prämie und damit den vollen Grundbedarf von 986 Franken. Dem Vorstoss stimmten SVP und FDP zu, ein GLP-Mann verhalf ihm schliesslich zur hauchdünnen Mehrheit.
Im Kanton Bern setzte sich Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg (SVP) für eine Kürzung der Sozialhilfe um 10 Prozent ein. Der Grosse Rat bewilligte schliesslich 8 Prozent Kürzung beim Grundbedarf, bei gewissen Personen kann die Kürzung 30 Prozent betragen. SP, Grüne und verschiedene Verbände haben nun einen Volksvorschlag eingereicht, der verlangt, dass die Sozialhilfe nach SKOS-Richtlinien ausgezahlt wird und Verbesserungen bei Weiterbildung und über 55-Jährigen verlangt. Darüber wird wohl im Herbst abgestimmt.
In einer Gruppe rund um den Alt-Nationalrat Ulrich Schlüer, Nationalrätin Barbara Steinemann, Kantonsrat Claudio Schmid und natürlich Schnegg und Riebli sollen nun noch weitere Abbauvorschläge erarbeitet werden. Die Idee: Sozialhilfe soll an bereits bezahlte Steuern und AHV-Abgaben gekoppelt werden. Junge bekämen dann gar nichts mehr, ältere Arbeitslose über 55 dafür die volle Sozialhilfe.
Wie meistens, wenn die SVP ein Thema bearbeitet, wird dieses willfährig von den Medien begleitet. Zum Beispiel brachte der ‹Blick› ganz passend einen aufsehenerregenden Fall: Eine (verstorbene) Frau habe Kleider im Wert von 100 000 Franken in ihrer Wohnung gehortet und noch vom Sozialamt eine grössere Wohnung erhalten haben. Darüber beklagte sich ihr vormaliger Vermieter im ‹Blick›. Die Vorwürfe lösten sich bei näherer Betrachtung aber in Luft auf. Die Journalistin prangerte an, dass die Frau eine Integrationszulage erhielt, obwohl die Italienierin perfekt Berndeutsch sprach. Eine Integrationszulage wird allerdings für Bemühungen um die Integration in den Arbeitsmarkt bezahlt, mit Berndeutsch hat das nichts zu tun. Auch sonst stellten die Sozialen Dienste der Stadt Bern keine Fehler fest. Die Güter der Frau wurden aufgrund von Betreibungen im April noch vom Konkursamt überprüft – dieses hätte keine Wertsachen gefunden (und damit auch keine teuren Kleider). Und auch eine Sozialhilfeempfängerin darf sich eine neue Wohnung suchen, sofern sie sie bezahlen kann.
Bereits im April kommentierte Claudia Blumer im ‹Tages-Anzeiger› wohlwollend die Kürzungsbemühungen der SVP. Zwar war sie dagegen, dass man Leistungsbereiten einen Bonus zahlen soll, aber «über die Höhe der Sozialhilfe zu reden, ist richtig. Die heutigen Richtlinien schreiben ein sogenannt soziales Existenzminimum vor. Es soll nicht nur Grundbedürfnisse stillen, sondern den Betroffenen eine Teilnahme am Sozialleben ermöglichen. Doch das gehört nicht in die Sozialhilfe. Das Überlebensgeld soll nur so hoch sein, dass ein menschenwürdiges Dasein möglich ist: Wohnen, Essen, medizinische Versorgung. Und es soll so tief sein, dass es nicht zum Spielball (partei-)politischer Interessen wird.»
Blumers Vorschlag ist aus drei Gründen falsch. Zum ersten liegt Blumer einem Irrtum auf, dem der ‹Tages-Anzeiger› und einige ähnlich gelagerte Medien öfters aufsitzen: Sie glauben, dass wenn die SVP einen extremen Vorschlag macht und die Linke diesen ablehnt, die vernünftige Lösung irgendwo in der Mitte liegen muss. Dabei liegt dann diese vermeintlich vernünftige Position weit rechts der realen Mitte. Zum zweiten glaubt Blumer, dass man, wenn man der SVP entgegen käme, damit stoppen könnte, dass die Sozialhilfe zum politischen Spielball wird. Wie die Vergangenheit zeigt, ist dies nie so.
Sie liegt vor allem auch inhaltlich falsch. Wie die NZZ am Sonntag aufzeigte, sind rund ein Drittel der Sozialhilfebezüger-Innen Kinder und Jugendliche. Rund 60 000 von 270 000 Sozialhilfebezügerinnen können nicht arbeiten, weil sie als Alleinerziehende kleine Kinder betreuen oder krank oder behindert sind. Von den rund 120 000 SozialhilfebezügerInnen, die erwerbsfähig sind, sind rund 46 000 bereits erwerbstätig. Bei der restlichen Gruppe sind zwei Gruppen wachsend: Die schlecht Qualifizierten und Arbeitslose über 55. Will Claudia Blumer wirklich Kindern, alleinerziehenden Müttern, Kranken und älteren Arbeitslosen nur noch das nackte Überleben zahlen?
Selbstverständlich sind auch unter SozialhilfebezügerInnen Leute, die Leistungen missbräulich beziehen. Doch um diese Probleme anzugehen, sind genügend Kontroll- und Sanktions- und Anreizmöglichkeiten vorhanden. Die Missbrauchsquote ist aber klein, die Quote der Sozialhilfebeziehenden im Allgemeinen relativ stabil. Es gibt also keinen Grund, diese Diskussion dermassen defensiv zu führen. Ganz im Gegenteil: Wir müssen wieder über den Grundsatz reden: Was ist es unserer Gesellschaft wert, dass alle Menschen in Würde leben können?
Min Li Marti