Politik schien mir immer ein rationales Geschäft. Getrieben durch Überzeugung oder Machtstreben oder einer Kombination aus beidem. Nicht immer gut, aber meistens berechenbar. Dann kam Horst Seehofer. Am 1. Juli – nach der Penalty-Zitterpartie Dänemark gegen Kroatien – folgen erste Gerüchte, Seehofer wolle als Innenminister und CSU-Parteichef zurücktreten. Die CSU sei unzufrieden mit den Resultaten des europäischen Asylgipfels. Dort haben sich die Länder darauf geeinigt, Asylsuchende in Lagern unterzubringen und danach auf die europäischen Länder zu verteilen. Die angekündigte Medienkonferenz verzögert sich. Alexander Dobrindt, Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, lehnt den Rücktritt ab. Um zwei Uhr morgens tritt Seehofer vor die Medien und kommuniziert praktisch nichts. Am nächsten Tag lässt er verlauten, er lasse sich nicht von einer Kanzlerin entlassen, die er selbst zur Kanzlerin gemacht habe. Die Presse munkelt, Seehofer wolle Merkel mit sich in den Abgrund ziehen. Schliesslich einigen sich Merkel und Seehofer auf sogenannte Transitzentren an der deutsch-österreichischen Grenze. Dort soll abgeklärt werden, ob die Asylsuchenden bereits in einem anderen Land ein Asylgesuch gestellt haben. Wenn ja, werden sie dorthin zurückgeschickt. In der Presse heisst es, Merkel habe sich in allen Punkten durchgesetzt. Seehofer sagt, er habe sich in allen Punkten durchgesetzt. Seehofer bleibt. Vorerst.
Soweit so bekannt. Seehofer bleibt rätselhaft: Was treibt ihn eigentlich? Sind es die Landtagswahlen, wo der CSU der Verlust der absoluten Mehrheit droht? Die AfD hat ihr bereits bei den Bundestagswahlen WählerInnen weggenommen. Doch kommen die nach Seehofers ZickZack-Schlingerkurs wieder zurück? Wohl kaum. «Wir schaffen das», meinte Merkel 2015, und die Deutschen haben es eigentlich geschafft. Doch Seehofer scheint ihr das nicht verziehen zu haben. Inhaltlich hat sich Merkels CDU in Asylfragen längst der CSU angenähert, von angeblicher Willkommenskultur keine Spur. Die CSU könnte sich dafür auf die Schulter klopfen. Doch jetzt – nach ausgetragenem Machtkampf – scheint der Tiger einmal mehr als Bettvorleger gelandet. Oder halt als einer, dem das eigene Amt wichtiger ist als die Überzeugung.
Die ganze Asyldiskussion, die momentan in Deutschland und anderswo geführt wird, hat insgesamt etwas total Irrationales. Die Flüchtlingszahlen haben stark abgenommen, dennoch wird diskutiert, als sei der totale Notstand ausgebrochen. Dass politische Stimmung nicht mit realen Fakten kongruent sein muss, ist längst bekannt. Es gibt Antisemitismus ohne Juden, Ausländerfeindlichkeit ohne Ausländer. Aber dass hier ein Parteichef ohne reale Not ziemlich nonchalant eine Regierungskrise in Kauf nimmt, scheint irgendwie schon eine neue Qualität anzunehmen. «Man fragt sich», meint der ehemalige Aussenminister Sigmar Gabriel, «sind die alle wahnsinnig geworden?» In der Tat.
Auch Donald Trump punktet mit einem angeblichen Massenansturm von illegalen Einwanderern. Um den abzuhalten, war anscheinend jedes Mittel recht, sogar kleine Kinder von ihren Eltern zu trennen und in Gefängnisse zu sperren. Aufgrund von massivem Druck hat Trump jetzt damit aufgehört, die Familien zu trennen – jetzt werden einfach die Kinder mit ihren Eltern auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis gesperrt. Doch auch Europa kann sich nicht brüsten. Es begann mit dem zweifelhaften Flüchtlingsdeal mit Erdogans Türkei, der sich seither gegenüber den Kurden jede Grausamkeit erlauben kann. Mittlerweile ist es zu etwas Ehrenrührigem geworden, Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Libysche Flüchtlingslager – noch vor einigen Monaten von europäischen Staaten massiv wegen unmenschlicher Bedingungen kritisiert, sind jetzt plötzlich die Lösung für europäische Asylprobleme geworden.
Wenn es denn Wahnsinn ist – hat es auch Methode? Ein Teil des Problems liegt tatsächlich in der Fehlkonstruktion der europäischen Flüchtlingspolitik begraben. Dass ein Asylsuchender ein Gesuch nur in einem Land stellen soll und nicht in mehreren, ist zwar absolut sinnvoll. Aber nur, wenn es einen europäischen Verteilschlüssel gibt. Da es diesen nicht gibt, sind Grenzländer wie Italien und Griechenland überproportional betroffen und haben daher auch nur einen geringen Anreiz, die Leute richtig ins Verfahren aufzunehmen. (Man fragt sich zuweilen, ob diese Länder bei der Verhandlung des Dubliner Abkommens überhaupt aufgepasst haben). Solange sich aber etliche Länder weigern, Flüchtlinge überhaupt aufzunehmen, kann das Problem nicht gelöst werden.
Die zunehmende Verschärfung und Verhärtung in der Flüchtlingspolitik kann fatale Folgen haben, wie Daniel Binswanger in der ‹Republik› mit Rückgriff auf Hannah Arendt schreibt: «Historisch betrachtet war die Flüchtlingspolitik das Laboratorium der Barbarei. Erst zielt die Aufhebung der Menschenrechte nur auf Migranten – und irgendwann auf die gesamte Bevölkerung.» Das Problem sind aber nicht nur die Trumps, die Salvinis, die Höckes oder die Glarners dieser Welt. Das Problem ist, dass die grundlegenden Werte der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte auch schon in der Mitte zu erodieren beginnen. Sei es durch Machtgier, Opportunismus oder der blossen Angst, Wahlen zu verlieren. Wie konnte beispielsweise eine christlichdemokratische Traditionspartei wie die ÖVP sich in einen Wahlclub eines opportunistischen Jungstars verwandeln? Warum gefährdet eine christlichsoziale Partei eine Regierungskoalition und eine jahrzehntelange Zusammenarbeit derart? Es ist Wahnsinn. Die Methode bleibt mir verborgen.
CDU und CSU haben sich geeinigt. Doch was macht eigentlich die SPD? Sie hat Transitlager immer abgelehnt. Wird sie sich – wie schon oft – dennoch beugen, frei nach dem Motto von Willy Brandt: «Zuerst das Land und dann die Partei»? Vermutlich. Besser wäre wohl etwas anderes: Eine Koalition aus CDU, SPD und Grünen, eine Koalition der Willigen. Eine, die vielleicht nicht nur Probleme bewirtschaftet, die sie selbst mitgeschaffen hat. Das würde der SPD wohl auch nicht helfen. Fürs Land wäre es sicher besser. Es wird wohl nicht passieren. Seehofer lässt verlauten, dass der Aufenthalt in den Transitzentren auf 48 Stunden begrenzt wird. Damit wird sich wohl auch die SPD zufrieden geben. Vorerst. Die nächste Krise folgt bestimmt.
Min Li Marti