Erschienen im P.S.

Manchmal dreht urplötzlich die Stimmung und keiner weiss genau warum. Wochenlang dominierte das herbeigeredete Asylchaos die Schlagzeilen. Ob Eritrea eine ganz schlimme Diktatur sei oder nur eine schlimme. Allerlei Methoden, wie man die Schweiz noch unattraktiver machen kann für Asylsuchende. Und über das Verständnis, dass man haben sollte, für die Ängste der Bevölkerung. Jetzt scheint alles ein bisschen anders. Plötzlich geht es um Solidarität. Viele Menschen sind bewegt, wollen sich engagieren. Der ‹Blick› ruft auf, für Flüchtlinge zu spenden und sich solidarisch zu zeigen, Prominenz aus Kultur, Sport, Show und Politik sind dabei: «Wir helfen», heisst der Aufruf.

Zur Erinnerung: Zu Beginn des Jahres machte ein ‹Geisterschiff› voller Flüchtlinge aus Syrien Schlagzeilen, das ohne Besatzung führungslos im Mittelmeer trieb und von der italienischen Küstenwache gerettet wurde. In der Folge forderten Solidarité sans frontières und Balthasar Glättli die Aufnahme von 100 000 syrischen Flüchtlingen. Die Aktion und die Forderungen gingen im Kugelhagel des Attentats auf das französische Satiremagazin ‹Charlie Hebdo› unter. Ein paar Monate später forderte Hans Grunder, Nationalrat BDP, die Aufnahme von 50 000 Flüchtlingen. Im bürgerlichen Lager setzte es Spott, Häme und Abwehr gegen Grunder ab. Es bringe nichts, so Gerhard Pfister, Nationalrat CVP, gegenüber dem ‹Tages-Anzeiger›, «wenn man sich versucht, mit Einzelaktionen als ‹Gutmensch› dazustellen».

Ebendieser Gerhard Pfister versuchte im Verlauf des Sommers, die CVP als Partei zu profilieren, die auch hart ist gegen Flüchtlinge. Er forderte, dass die Flüchtlinge kein Bargeld mehr erhalten sollen, nur Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Dafür sollen sie gratis arbeiten. Jetzt will CVP-Präsident Darbellay im ‹Blick› mehr Solidarität mit Flüchtlingen.

Kurt Fluri von der FDP, der lange Zeit als einer der letzten verbliebenen Vertreter des sozial- und grundrechtsliberalen Flügels galt, der Posterboy des ‹Club Helvétique›, hatte auch vor ein paar Tagen noch Ideen, wie man mit dem Flüchtlingsdrama umgehen soll: Mit Waffengewalt nämlich. Syrer, Afghanen und Eritreer sollen in nordafrikanischen Flüchtlingslagern gesammelt werden, forderte Fluri im ‹Blick›. Statt dass man Geld in Europa fürs Flüchtlingswesen ausgebe, könne man in Nordafrika Schutzzonen besetzen, «wenn nötig mit Waffengewalt mittels UNO-Mandat». Auch Philipp Müller, FDP-Parteipräsident, will im ‹Blick›-Aufruf jetzt helfen.

Was ist geschehen? Was ist heute anders als noch vor ein paar Tagen? Erstens: Das Elend ist näher gerückt. In Österreich wurden 71 tote Flüchtlinge in einem Lastwagen nahe der ungarischen Grenze gefunden. 59 Männer, 8 Frauen und 4 Kinder sind darin qualvoll erstickt. Zweitens: Das Gerede vom Asylchaos funktioniert nicht. Jede Schweizerin und jeder Schweizer weiss, dass die Schweiz ein wohl organisiertes und gut verwaltetes Land ist, in dem Chaos auch in ausserordentlichen Lagen selten ausbricht. Dass unter Bundesrat Blocher die Unterbringungsstrukturen dramatisch abgebaut wurden, ist zwar ärgerlich, aber nicht unlösbar. Und der Blick ins Ausland zeigt: Nirgends ist das Wort Chaos so unangebracht wie hier. Und zu guter Letzt: Bei allem Verständnis für Ängste und Befürchtungen – mit gewissen Leuten will man einfach nichts zu tun haben. Wer will schon Verständnis zeigen für Anschläge von Neonazis auf Asylunterkünfte in Deutschland, für den Hass, der in den sozialen Medien und den Kommentarspalten ausgebreitet wird oder für den Zynismus von Mörgeli, der sich auf Facebook über das Flüchtlingsdrama lustig machte?

Dass die Stimmung gedreht hat, ist eine gute Sache. Es stimmt hoffnungsfroh, wenn man die Zeichen der Solidarität und der konkreten Hilfsbereitschaft sieht, wie die Münchnerinnen und Münchner, die den erschöpften Flüchtlingen, die aus Ungarn kamen, Wasser und Nahrungsmittel und Windeln brachten. Wie die vielen Schweizerinnen und Schweizer, die sich jetzt engagieren wollen. Genauso wie die Journalistinnen und Journalisten, die jetzt Flagge zeigen.

In seinem sonst ausgezeichneten Kommentar im ‹Tages-Anzeiger› schreibt Philipp Loser in einem Nebensatz eine Killerphrase: «Das Vokabular ist verschwunden, um das Asyl- und Migrationsthema mit der benötigten Ernsthaftigkeit zu diskutieren. Das gilt für beide Seiten: So daneben es ist, wie die SVP die Schweiz mit einem hohen Zaun vor der Welt ausschliessen will, so naiv ist es zu meinen, das Flüchtlingsproblem als Schweiz alleine lösen zu können.» Das ist falsch. Niemand glaubt oder behauptet, wir könnten als Schweiz allein das Flüchtlingsproblem lösen, den Weltfrieden schaffen und die Armut besiegen. Die Aussage, man könne ja als Schweiz nicht alle Probleme lösen, ist eine prima Ausrede, nichts zu tun. Ruth Dreifuss, ehemalige Bundesrätin der SP, bringt es in einem Interview mit dem ‹Blick› auf den Punkt: «Indem die Politik versucht, unser Land immer unattraktiver für andere zu machen, wird die Schweiz auch immer weniger gemütlich für uns selbst.» Das ist in den letzten Jahren sukzessive geschehen.

Das neue Feindbild der Schlepper taugt nur bedingt, wenn wir ehrlich sind mit uns selber. Natürlich sind es skrupellose Menschenhändler, Verbrecher. Wie die Beispiele des Lastwagens und des Geisterschiffs zeigen. Aber sie sind Teil des Systems. So lange es nicht legale Wege in die Sicherheit gibt, wird es Schlepper geben. Mit der Abschaffung des Botschaftsasyls in der letzten Asylgesetzrevision haben auch wir eine Möglichkeit aus der Hand gegeben, wie Flüchtlinge ein Gesuch stellen können, ohne die gefährliche Reise auf sich zu nehmen.

Wir können nicht die Probleme dieser Welt lösen, aber wir können einen bescheidenen Beitrag dazu leisten. Zum Beispiel mit der Wiedereinführung des Botschaftsasyls. Oder mit der Idee, die eine Gruppe um Ex-Juso-Präsident David Roth und Online-Aktivist Daniel Graf hatten: Der Möglichkeit, Online-Asylgesuche zu stellen. In dem wir mehr Kontingentsflüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Der Bundesrat will 3000 Kontingentsflüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Wir könnten mehr und schneller aufnehmen. Die Stadt Zürich wäre bereit, wie ein vom Gemeinderat überwiesenes Postulat von Alan David Sangines und Matthias Probst gezeigt hat.

Und: Nach dem Kosovo-Konflikt wurde ein neuer Schutzstatus S ins Gesetz geschrieben. Dieser würde es ermöglichen, Kriegsflüchtlinge kollektiv vorläufig aufzunehmen. Das hätte einen erheblichen Vorteil für Behörden und Betroffene, zum einen, weil die aufwändige Einzelprüfung wegfällt, und weil die Betroffenen das Recht auf Familiennachzug hätten. Der Schutzstatus S wurde noch nie angewandt. Im Fall der Flüchtlinge aus Syrien wäre es eine gute Gelegenheit, diesen zu erproben.

Es gibt auch Weiteres, das wir als Bürgerinnen und Bürger tun können. Viele Organisationen wie das Solinetz, die Freiplatzaktion, die Sans-Papier-Anlaufstelle oder die Autonome Schule engagieren sich seit Jahren in der konkreten Flüchtlingshilfe und sind für Unterstützung dankbar. Nutzen wir die Gelegenheit, das zu tun, was wir tun können. Auch wenn es nicht das Elend der Welt löst.

 

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