Erschienen im P.S.

Trau keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast. Das finden viele. Was wenige davon abhält, Statistiken zu zitieren. Das Problem an Statistiken ist aber in der Regel nicht die Manipulation (vielleicht mit Ausnahme der Muslim-Kurven der SVP), sondern die Interpretation. Meistens ist die Aussagekraft von Statistiken sowieso eher beschränkt.

Ich kann mich noch an den Frust im Soziologiestudium erinnern, wenn eine statistische Auswertung mit viel Aufwand zum Schluss kam, dass es eigentlich nichts zu sagen gibt. Alle klugen Hypothesen wurden weder bestätigt noch verworfen. Ebenfalls bekannt ist, dass Korrelation nicht das Gleiche ist wie Kausalität. Was vermeintlich einen Zusammenhang hat, hat eben vielleicht gar keinen, weil wichtige Faktoren in der Statistik nicht auftauchen. Der vermeintliche Zusammengang zwischen Störchen und einer hohen Geburtenrate ist das berühmteste Beispiel dafür.

Alle Polit-Junkies, Politikerinnen und Campaigner lieben Umfragen und Statistiken. Aber seine Politik nach Umfragen richten, will man denn doch nicht, man ist ja schliesslich keine Windfahne. So bleibt es meist dabei, die Statistiken dann zu zitieren, wenn sie einem dienen, und sie dann zu ignorieren, wenn sie nicht ins Weltbild passen.

Unter all diese Vorbehalte muss man denn auch die neue ‹Selects›-Studie zu den eidgenössischen Wahlen 2015 stellen. Die aber dennoch einige interessante Resultate enthält. Über die Interpretation kann man sich streiten.

Die Wahlgewinner sind laut der ‹Selects›-Studie die SVP und die FDP. Der SVP gelang es, besonders gut zu mobilisieren: Sie vermochte zum einen, die WählerInnen von 2011 wieder an die Urne zu bringen, und sie erhielt überdurchschnittlich viele Stimmen von jenen, die 2011 nicht oder noch nicht gewählt haben.

Die FDP ist die Partei mit dem grössten Potenzial: Sie ist die Partei, von der sich am meisten Leute vorstellen könnten, sie auch mal zu wählen. Nach wie vor beteiligen sich Leute mit höherer Bildung und höherem Einkommen mehr an Wahlen als solche mit niedrigem Einkommen und weniger Bildung. Männer wählen häufiger als Frauen und sie wählen häufiger SVP. Frauen wählen überdurchschnittlich SP oder Grüne. Die SVP ist praktisch in allen Kategorien die stärkste Partei, ausser beim höchsten Einkommen, da gewinnt die FDP. Höher Gebildete mögen FDP, SP, Grüne und GLP. Die SVP ist stark bei WählerInnen mit einer obligatorischen Schulbildung oder mit einer Berufslehre. Die SP schneidet am besten ab bei WählerInnen mit einem Migrationshintergrund. Allerdings ist auch dort die SVP stark. Bei den Wählerwanderungen waren die SVP, CVP und die SP sehr stabil. Die SP verlor aber einen Teil der WählerInnen an die Grünen. Eingebrochen sind vor allem BDP und GLP. Die GLP verlor an SP und Grüne, aber auch an die FDP. Die BDP verlor vor allem an SVP und FDP.

Das Thema, das den Wahlkampf 2015 dominierte, war Asyl- und Migrationspolitik. 44 Prozent der WählerInnen nannten dieses Thema als grösstes Problem. An zweiter Stelle folgte mit 13 Prozent die Europapolitik, das politische System wurde von 12 Prozent genannt, neun Prozent nannte Sozialwerke und soziale Sicherheit als wichtigstes Problem. Wirtschaft sowie Umwelt, Klima und Energie erhielten je fünf Prozent der Nennungen.

Asyl- und Migrationspolitik dominierte aber nicht nur bei SVP-WählerInnen, sondern bei allen. Die Dominanz dieses Themas überrascht allerdings nicht und ist auch keine SVP-Wahlkampferfindung – schliesslich sind heute so viele Menschen weltweit auf der Flucht wie niemals seit dem Zweiten Weltkrieg. Bei der Kompetenzzuschreibung überrascht auch wenig: Kompetenz in Umweltfragen werden den Grünen und der GLP zugeschrieben, bei der Sozialpolitik schwingt die SP obenaus, bei der Wirtschaft die FDP. Und natürlich finden SVP-WählerInnen, dass die SVP kompetent ist in der Asyl- und Migrationspolitik. Als die kompetenteste Partei in der Europapolitik gilt die FDP.

Grundsätzlich ist eine zunehmende Polarisierung festzustellen. SP- und Grüne-WählerInnen sind nach links, SVP-WählerInnen nach rechts gerutscht. Ebenfalls nach rechts – aber nur leicht – ist die FDP-Wählerschaft gerutscht. Die GLP-WählerInnen hingegen sind linker geworden und positionieren sich mehrheitlich links der Mitte.

Interessant sind die Diskrepanzen zwischen KandidatInnen und WählerInnen. Bei SP und Grünen sind die politischen Einstellungen der WählerInnen und der Kandidierenden relativ ähnlich, die grünen WählerInnen sind leicht linker als ihre Kandidierenden, die SP-WählerInnen leicht rechter. Eine grosse Abweichung gibt es bei der GLP: Hier schätzen sich die WählerInnen deutlich linker ein als die Kandidierenden der GLP, sowohl in der eigenen Einschätzung wie in der Positionierung in Sachfragen. Auch bei FDP und SVP gibt es Abweichungen nach links: So lehnen diese WählerInnen beispielsweise die Erhöhung des Rentenalters klar ab, während die Kandidierenden das klar befürworten.

Wo könnten SP und Grüne (über die AL gibt es in der Befragung leider keine Angaben) also mehr Stimmen holen? Eine wichtige Zielgruppe bleiben die Frauen, zumal im internationalen Vergleich die Stimmbeteiligung und das politische Interesse von Frauen in der Schweiz immer noch vergleichsweise niedrig sind. Ein grosses Potenzial liegt – vor allem für die SP – bei WählerInnen mit Migrationshintergrund, deren Wahlbeteiligung ebenfalls unterdurchschnittlich ist. Politisch heikel wird es aber bei einem anderen Wählerpotenzial: Bei den WählerInnen und Wählern der GLP. Zwischen Grünen und SP läuft momentan ein Nullsummenspiel, in dem die WählerInnen ausgetauscht werden, aber das Lager sich nicht vergrössert. Hingegen gibt es offenbar Mitte-Links-WählerInnen der GLP, deren politische Einstellung vom politischen Personal der GLP eigentlich nicht bedient wird. Ein Teil dieser WählerInnen ist im Herbst 2015 bereits wieder zur SP und zu den Grünen zurückgekehrt.

Politisch attraktiver für Mitte-Links-WählerInnen zu werden, wird aber weder bei den Grünen noch bei der SP politisch unbestritten sein. Ein Kurswechsel zur Mitte hin würde wohl von einer Mehrheit der Mitglieder und auch von den WählerInnen nicht goutiert. Kein Wunder, wenn man ständig Schwanengesänge in den Medien über den Niedergang der Sozialdemokratie liest (die Grünen kommen erst gar nicht mehr vor, was fast noch schlimmer ist).

Wenn beispielsweise René Lüchinger im ‹Blick› schreibt, dass die SP früher ja noch gut gewesen sei, weil sie die AHV erfunden hätte, aber heute nur noch umverteilen wolle (offensichtlich hat Lüchinger das Prinzip der AHV nicht begriffen…). Oder wenn sich die NZZ auf ihrer Titelseite zurücksehnt nach den Sozialdemokraten des Dritten Wegs. Natürlich waren diese für die Bürgerlichen ein Gottesgeschenk, da sie deren Drecksarbeit erledigten und dafür dann auch noch elektoral abgewatscht wurden. Daran nagen die Sozialdemokraten in Deutschland und in England noch heute.

Trotzdem muss es im Interesse von SP und Grünen sein, ihre Wählerbasis und das Lager zu vergrössern. Aber eben: Statistik ist das eine. In der richtigen Interpretation liegt die Crux.

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