Erschienen im P.S.
Auch wenn Zuckersäckchen, alte chinesische Weisheiten und ganze Bibliotheken voller Selbsthilfebücher etwas anderes behaupten: Eine Krise ist erst mal eine Krise. Und eher selten eine Chance.
Grossbritannien hat entschieden. 51,9 Prozent wollen aus der EU austreten. Nun ist das Resultat da und ebenso eine grosse Ratlosigkeit. Die Märkte reagieren turbulent, die PolitikerInnen hilflos. Die EU-Gegner geben zu, dass die Versprechen der Kampagne nicht eintreffen werden. UKIP-Anführer Nigel Farage sagte gleich am Freitagmorgen in einem Interview, das mit den 350 Millionen Pfund, die statt an die EU an den NHS (National Health Service, das englische Gesundheitssystem) gehen sollten, wie es in der Kampagne geheissen hat, sei dann schon nicht so gemeint gewesen. Daniel Hannan, konservativer Abgeordneter und einer der führenden Brexit-Campaigner, sagt nach der Abstimmung, man werde wohl die Personenfreizügigkeit beibehalten müssen, um weiterhin Zugang zum Binnenmarkt zu erhalten. Bei Boris Johnson, dem ehemaligen Londoner Bürgermeister wusste man weder in seinen Auftritten noch bei seiner Kolumne nach der Abstimmung, ob er staatstragend wirken wollte oder schlicht nicht wusste, was er jetzt eigentlich sagen soll. Ein ungenannter konservativer Abgeordneter sagt Sky News, dass es keinen Plan Brexit gebe. Das sei die Aufgabe des Premierministers. David Cameron, der britische Premierminister, aber tat das einzige Richtige: Nämlich zurückzutreten.
Auch die Konkurrenz tut sich schwer. Weil sich der Parteivorsitzende Jeremy Corbyn zu wenig für einen Verbleib in der EU engagiert habe, wenden sich die ParlamentarierInnen von Labour von ihm ab. Eine Mehrheit seines Schattenkabinetts ist zurückgetreten. In einer Vertrauensabstimmung sprachen sich 172 gegen 40 Abgeordnete gegen Corbyn aus. Diese Abstimmung ist aber nicht bindend. Das letzte Wort haben die Mitglieder. Dort wird Corbyn vermutlich bestätigt, schliesslich hat ihn eine grosse Mehrheit der Mitglieder vor nicht einmal einem Jahr als Präsidenten gewählt. Die Situation für Labour ist dennoch eine schwierige. Viele Mitglieder fühlen sich von den Abgeordneten, also dem ‹Establishment›, verraten. Gleichzeitig ist es für einen Parteipräsidenten nun einmal recht schwierig, eine Partei zu führen, wenn 80 Prozent der Fraktion ihm das Vertrauen entzogen haben. Es ist vermutlich zutreffend, dass Corbyns Gegner ihm von Anfang an das Leben schwer machten. Aber mir scheint ebenso plausibel – mindestens angesichts einer derart deutlichen Mehrheit der Fraktion – dass es nicht bloss um politische Positionskämpfe geht. Sondern dass schlicht die überwältigende Mehrheit findet, dass er es einfach nicht kann.
Die Ratlosigkeit ist auch in der Schweiz gross. «Die Stunde der Fantasten» sei ausgebrochen, schrieb Alan Cassidy im ‹Tages-Anzeiger›. Damit meinte er alle jene, die sich über einen Brexit freuen. Nun kann ja eine Krise durchaus eine Chance sein. Es könnte sein, dass der Schock die EU zu demokratischen Reformen zwingt. Dass Grossbritannien, das sowieso nie mit Enthusiasmus EU-Mitglied war, die anderen nur gebremst hat. Dass sich jetzt Chancen für die Schweiz auftun, wie sich das Micheline Calmy-Rey oder FDP-Nationalrat Hanspeter Portmann erhoffen. Dass die Efta wiedererstarken könnte oder dass eine Neuauflage des EWR neue Möglichkeiten schafft.
Mir scheint leider ein anderes Szenario wahrscheinlicher. Nämlich, dass Krisen eben vor allem Krisen sind. Dass der Brexit die EU-KritikerInnen auf dem Kontinent stärkt und inspiriert. Und dass sich eben Regierungen, Unternehmen oder andere Gremien unter Druck sich meist nicht vorausschauend, sondern eher defensiv verhalten. Sich in einer Wagenburg der Rechtschaffenen verschanzen. In Panik und Kakophonie verfallen. Beispiele dafür gibt es genug. Und genauso scheint mir wahrscheinlich, dass die Schweiz und Grossbritannien nicht das erhalten, was sie eigentlich wollen: Nämlich den Zugang zum Binnenmarkt ohne Personenfreizügigkeit. Beziehungsweise die Personenfreizügigkeit für sich, aber nicht für die anderen. Also den Fünfer, das Weggli und die Bäckerstochter. So sind denn auch alle Vorschläge, die im Moment zur Umsetzung der Masseinwanderungsinitiative Varianten dieses Motivs. Denn sowohl einseitige Schutzklausel wie Inländervorrang oder Ambühl-Modell sind nicht mit den bilateralen Verträgen zu vereinbaren. Denn sie verstossen gegen die vier Freiheiten der EU: Der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital sind die Grundsäulen der EU.
Der Brexit sei «mutig» gewesen, sagt Petra Gössi, die neue FDP-Präsidentin. Mutig ist natürlich auch der Sprung ins Haifischbecken mit einer offenen Fleischwunde. Mut allein ist also kein Kompliment. Als zweites üben sich Gössi und FDP in Vernebelungstaktik. Weil man die Personenfreizügigkeit erhalten will, solle man halt die Zuwanderung aus Drittstaaten begrenzen. So fordern sie in ihrer einstimmig verabschiedeten Resolution: «Über strengere Voraussetzungen und konsequente Anwendung des Ausländergesetzes ist die Zuwanderung von Nichterwerbstätigen aus diesen Staaten zu beschränken. Qualifizierte Fachkräfte und ihre Familien sind in der Schweiz willkommen.» Der Witz an der Geschichte: Das entspricht dem Status quo. Zuwanderer aus Drittstaaten sind nach Definition des Ausländergesetzes «Fachkräfte, Spezialistinnen und Spezialisten und andere qualifizierte Arbeitskräfte». Der Rest sind deren Familien, die aber die FDP offenbar auch nicht meint. Die «Nichterwerbstätigen» aus Drittstaaten sind dann also entweder ausländische Studierende oder ausländische (reiche) Rentner wie Michail Chodorowski. Aber ich vermute mal, um die geht es auch nicht. Viel eher geht es wohl darum, so zu tun, als würde man etwas tun.
Die EU ist nicht perfekt und es gibt genügend Gründe, sie zu kritisieren. Doch auch wenn es ein wenig schwierig ist, Margaret Thatcher zu paraphrasieren – gibt es wirklich eine bessere Alternative? Oder wie es der deutsche Komiker Jan Böhmermann twitterte: «Hat eigentlich schon mal jemand Nationalismus in Europa ausprobiert? Woher wissen denn alle, dass das angeblich so eine Scheissidee ist?»
Der Slogan für Brexit hiess «Take back control». Wir wollen die Kontrolle zurück. Das war auch das Hauptargument bei der Masseneinwanderungsinitiative. Nämlich, dass wir die Zuwanderung wieder selber steuern können. Mehr Kontrolle ist ein starkes Argument. Allerdings könnten wir das hier und heute und total europakompatibel einfach tun. In dem wir selber Fachkräfte ausbilden. In dem wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie stärken. In dem wir die flankierenden Massnahmen ausbauen. Wir tun es einfach nicht, weil dafür der Wille nicht vorhanden ist. Weder von der Wirtschaft (die gar nichts will), noch von FDP und CVP und schon gar nicht von der SVP. Wie Constantin Seibt im ‹Tages-Anzeiger› schreibt: «Vernünftige Umverteilung ist nicht ein Verstoss gegen die Ökonomie, sondern eine Investition. Die Alternative ist weit teurer: dass ein Land auf Jahre hinaus gelähmt ist.» Ersteres wäre die eigentliche Chance in der Krise. Wird sie aber auch genutzt?